[The Story Behind] Der Wind erhebt sich

Liebste Bücherwürmer!

Ich bin ein Mensch, dessen Kindheit von Trickfilmen der besonderen Art geprägt war. Ich wuchs auf mit dem Wissen, an jedem Weihnachtsfest einen weiteren Film über kleine und große Helden, mit viel Gesang und einer guten Prise Herzschmerz dem stetig wachsenden Repertoire heimischer Videokassetten hinzufügen zu können. Die Rede ist – selbstverständlich – von Disney.

Auch heute schaue ich mir die liebgewonnenen Geschichten gerne immer und immer wieder an, singe aus vollem Hals mit und weine um die Verlorenen. Doch mich interessieren nun die Geschichten, die dahinterstecken. Welches Buch war ausschlaggebend für welchen Film? Und wie wurde die Geschichte umgesetzt? Dem möchte ich in dieser Beitragsreihe nachgehen. Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen, suchen wir gemeinsam The Story Behind.

Tatsuo Hori

Der Wind erhebt sich

Werbung | Autor: Tatsuo Hori | Titel: Der Wind erhebt sich |
Übersetzung: Sabine Mangold |
Erscheinungsdatum: August 2022 | Verlag: Mitteldeutscher Verlag |
84 Seiten | Genre: Novelle |

Plötzlich, wie aus dem Nichts, erhob sich ein Wind.
Durch die flirrenden Lücken im Blätterdach über uns lugten tiefblaue Flecken hervor, die anschwollen und schrumpften.

(S.7)

Paul Valerys Gedicht Der Friedhof am Meer gab für Tatsuo Hori den Impuls für diese Novelle. Der Wind erhebt sich ist eine Geschichte über die Liebe, die sich zwischen einer an Tuberkulose erkrankten jungen Frau namens Setsuko und ihrem Mann abspielt und die doch vom nahenden Tod Setsukos völlig überschattet wird.

Die Novelle erzählt größtenteils vom Aufenthalt der beiden in einem Sanatorium in den Bergen Japans, welches dabei helfen soll, die junge Frau von ihrem Leiden zu befreien. Oder zu erlösen, denn so fortgeschritten, wie die Krankheit bereits ist, scheint es kaum noch Hoffnung zu geben. Der Ich-Erzähler beschreibt dabei fortwährend die gleichförmigen Tage im Sanatorium und den rasch fortschreitenden Verfall seiner Geliebten. Dabei bleiben die beiden Protagonisten jedoch ziemlich farblos, scheinen keinerlei Hintergrundgeschichte zu haben. Was zählt, ist das angepriesene Glück des Mannes, diese kostbare Zeit mit Setsuko gemeinsam zu verbringen, losgelöst von anderen Menschen. Die Jahreszeiten ziehen an den großen Fenstern des Sanatoriums vorbei, während Setsuko im Bett liegt und er ebenfalls nur durch das Fensterglas einen Blick nach draußen auf die herrliche Welt außerhalb wirft.

Irgendwann beginnt er damit, eine Geschichte über sie beide zu Papier zu bringen. Um etwas zutun zu haben vielleicht, oder um der Realität insoweit zu entfliehen, dass er das reale Ende noch ein wenig länger ignorieren kann. Immer wieder erklärt er uns, wie glücklich er doch ist, dass er schon immer mit einer zarten jungen Frau in den Bergen leben wollte. Dass ihr Leiden sie erst so besonders liebenswert macht. Zugegeben, diesen Aspekt empfand ich mehr als wunderlich, denn wer sollte sich denn wirklich so etwas wünschen? Auch scheint die tatsächliche Liebe zwischen den beiden, auch wenn sie verheiratet sind, ziemlich platonischer Art zu sein, denn viel spielt sich bei ihnen zwischenmenschlich nicht ab. Durch die fehlenden Hintergründe erscheinen beide außerdem ziemlich austauschbar. Wer waren sie vor dem Sanatorium? Wie lernten sie sich kennen, wie lieben? Wieso scheint die Beziehung anfangs so kompliziert zu sein und ist es dann plötzlich doch nicht mehr?

So ist diese Novelle am Ende für mich nur ein Zwischenspiel gewesen, durchaus tragisch, aber doch nicht so mitreißend, wie zunächst gedacht aufgrund dieses an sich sehr dramatischen Hintergrunds.

Studio Ghibli

Wie der Wind sich hebt

2013 kam Wie der Wind sich hebt unter der Regie von Hayao Miyazaki ins Kino. Miyazaki bekundete schon früher seine Vorliebe für Tatsuo Horis Novelle, indem er bereits 2009 einen Manga veröffentlichte, bei dem er die hier geschilderte Liebe mit dem Leben des real existierenden Flugzeugkonstrukteur Jirô Horikoshi kombinierte.

Le vent se lève, il faut tenter de vivre.
(Der Wind hebt an, wir müssen versuchen zu leben.)

(Wie der Wind sich hebt)

Jirô lernt die junge Nahoko kennen, als sich beide in einem Zug befinden. Sein Hut wird vom aufkommenden Wind von seinem Kopf geweht, und das Mädchen fängt ihn für ihn auf. Doch dann kommt es zu einem gewaltigen Erdbeben, und die beiden verlieren sich für viele Jahre aus den Augen. Jirô will Flugzeuge bauen und gilt bereits früh als wahres Genie. Seine Wege führen ihn unter anderem nach Deutschland, wo er die Junkers-Flugwerke besichtigt. Das erneute Aufeinandertreffen von Jirô und Nahoko erfolgt völlig zufällig in einem Hotel, bei dem sich beide ihre gegenseitige Liebe versichern. Doch Nahoko leidet an Tuberkulose und will vor einer Heirat erst gesund werden.

Im Gegensatz zur Buchvorlage reist Jirô nicht mit seiner Geliebten in die Berge, sondern widmet sich weiterhin seiner beruflichen Karriere, entwirft immer leichtere Flugmaschinen, die Japan im Krieg helfen sollen. Nahoko hält es nicht mehr allein aus im Sanatorium und flüchtet sich zu Jirô, lebt fortan mit ihm zusammen im Gästehaus seines Chefs, nachdem sie kurzerhand geheiratet haben. Und auch wenn im Film die Liebe der beiden nicht so platonisch erscheint wie in der Novelle Horis, so ist sie auch hier nicht der eigentliche Träger der Geschichte. Denn während Horis Erzähler scheinbar kein Leben zu führen scheint, weder vor dieser Ehe noch während des Aufenthalts im Sanatorium, so ist Jirôs Leben mit seiner Arbeit mehr als reichlich ausgefüllt, so dass er mitunter kaum Zeit für seine Frau findet. Und so kann er nicht einmal Abschied von ihr nehmen, denn als eines seiner Flugzeuge gerade getestet wird, flieht sie zurück in die Berge, um ihm ihren bevorstehenden Tod nicht vor Augen zu führen.

Was der Film im Gegensatz zum Buch schafft, das ist, diesem ungleichen Paar Leben einzuhauchen. Nahokos Leben scheint zwar weiterhin nur durch ihre Krankheit Bestand zu haben, jedoch bekommt zumindest Jirô einen ausgeprägten Hintergrund, der ihn uns als Menschen näherbringt. Und so findet man am Ende doch noch Zugang zu dieser tragischen Liebe, die keine dauerhafte Zukunft haben kann.


Disneys abendfüllende Zeichentrickfilme im direkten Vergleich zu ihren literarischen Vorlagen:
The Story behind.

Mehr Beiträge zu dieser Reihe gibt es hier:
Cap & Capper: Fuchs und Hund – Freunde oder Feinde?
101 Dalmatiner: Wertvoll gepunktet
Dumbo: Ich hab viel gesehen auf dieser Welt, …!
Bambi: Von Reh zu Hirsch
Aladdin: Der ungeschliffene Diamant
Arielle: Unter dem Meer
Robin Hood: Im wilden Sherwood Forest
Das Dschungelbuch: Dschungelgeschichten
Bernhard und Bianca: R-E-T-T-U-N-G
Schneewittchen: Spieglein, Spieglein, an der Wand
Die Eiskönigin: Völlig unverfroren adaptiert
Mulan: Vom Kampf der Geschlechter
Peter Pan: Auf ins Nimmerland!
Pocahontas: Das Farbenspiel des Winds
Alice im Wunderland: Ab durch den Kaninchenbau
Der Glöckner von Notre Dames: Der Narrenpapst
Die Hexe und der Zauberer: Das Schwert im Stein
Oliver und Co: Eine Katze unter Hunden
Basil, der große Mäusedetektiv: Von Mäusen und Detektiven
Pinocchio: Ein echter Junge?
Die Schöne und das Biest: Der äußere Schein trügt
Aschenputtel: Bibbidi-Bobbidi-Boo!
Hercules: From Zero to Hero
Küss den Frosch: Von Sumpfprinzen und falschen Prinzessinnen
Der Schatzplanet: Piraten traut man besser nicht
Tarzan: Der weiße Affe
Dornröschen: Die schlafende Schönheit
Nightmare before Christmas: Holy Halloween!
Studio Ghibli: Erinnerungen an Marnie

2 Comments on “[The Story Behind] Der Wind erhebt sich

  1. Den Film habe ich erst letzten Sonntag gesehen. Ich mochte die geschichtlichen Aspekte sehr und die leichten Momente dazwischen, aber so ganz hat es nicht geklickt. Das Buch werde ich dann wohl besser nicht lesen. 😅

    Gefällt 1 Person

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