[The Story Behind] Die schlafende Schönheit

Liebste Bücherwürmer!

Ich bin ein Mensch, dessen Kindheit von Trickfilmen der besonderen Art geprägt war. Ich wuchs auf mit dem Wissen, an jedem Weihnachtsfest einen weiteren Film über kleine und große Helden, mit viel Gesang und einer guten Prise Herzschmerz dem stetig wachsenden Repertoire heimischer Videokassetten hinzufügen zu können. Die Rede ist – selbstverständlich – von Disney.

Auch heute schaue ich mir die liebgewonnenen Geschichten gerne immer und immer wieder an, singe aus vollem Hals mit und weine um die Verlorenen. Doch mich interessieren nun die Geschichten, die dahinterstecken. Welches Buch war ausschlaggebend für welchen Film? Und wie wurde die Geschichte umgesetzt? Dem möchte ich in dieser Beitragsreihe nachgehen. Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen, suchen wir gemeinsam The Story Behind.

Dörnröschen

Die Macht der Liebe

Dörnröschen kam 1959 als 16. abendfüllender Zeichentrickfilm aus den Disney Studios auf die große Leinwand. Der Zeichenstil des Films hebt sich betont von den vorherigen (und auch den nachfolgenden) Disneyfilmen ab, denn dank des Malers Eyvind Earle und seiner Liebe zur Architektur und Malerei des Mittelalters, bekam Disneys Märchenadaption einen wunderbar kantigen, scherenschnittartigen Stil verpasst, der uns direkt ins Herz alter Märchenbücher blicken lässt.

Dornröschen ©Disney

Dem Königspaar ist endlich eine Tochter geschenkt worden, und zu diesem Anlass geben sie ein großes Fest im königlichen Palast. Auch der König des Nachbarreiches ist geladen, dessen Sohn in ferner Zukunft die kleine Aurora heiraten soll. Neben vielen weiteren Gästen sind außerdem die drei guten Feen des Landes geladen: Flora, Fauna und Sonnenschein. Eine jede von ihnen wird dem Kind einen Wunsch darbringen, doch noch während Sonnenschein die Ärmel hochkrempelt, erscheint plötzlich die böse Fee Malefiz. Gekränkt durch die ausgelassene Einladung, verflucht sie die kleine Prinzessin, indem sie prophezeit, dass jene noch vor Vollendung ihres 16. Lebensjahres den Tod dank einer Spindel findet. Die zuvor unterbrochene Sonnenschein kann den Fluch jedoch noch etwas abmildern und ändert den Tod in einen tiefen Schlaf und ernennt die Macht der Liebe in Form eines Kusses als Heilmittel.

Ich kenn dich, ich war bei dir einst einmal im Traum!

(Dornröschen | Disney)

Rosa! Nein, blau!

Die Feen beschließen nun, das Kind mit sich in den Wald zu nehmen und sie dort – fern von sich verratender Magie – allein großzuziehen. Fünfzehn Jahre geht alles gut, doch am Abend von Auroras sechzehnten Geburtstags werden die Damen des Magieverbots nun doch endlich überdrüssig, indem sie Aurora ein besonders schönes Geburtstagsgeschenk überreichen wollen.

Wir wissen alle, was nun passiert. Endlich wieder im Schloss der königlichen Eltern, wird Aurora von Malefiz an eine magische Spindel gelockt, sticht sich damit in den Finger und fällt in tiefsten Schlafe. Zum Glück hat sie erst vor wenigen Stunden den ihr versprochenen Prinzen im Walde kennengelernt, der sich sogleich mit Hilfe der guten Feen daran macht, sie aus ihrem Schicksal zu befreien.

Das Märchen endet, wie es alle guten Märchen zutun pflegen mit einer stilvollen Hochzeit. Oder nicht?

Die schlafende Schöne im Walde

Von Menschenfressern

Sämtliche zur Verfügung stehende Quellen schwören darauf, dass die Disneyversion des Märchens rund um Dornröschen inspiriert wurde von Charles Perraults Märchen Die schlafende Schöne im Walde. Warum das nun genau so ist, und man nicht ebenso gut unsere deutsche Version der Gebrüder Grimm benennen könnte, weiß ich nicht, denn eins ist sicher: Das Disneymärchen hat genauso viele Schnittstellen mit Perrault wie mit den Grimms – und lässt zudem von ersterem das Ende völlig weg.

Auf die Formulierung kommt es an

Zunächst einmal sind es nicht drei gute und eine böse Fee, sondern sieben der guten Damen sind zum Königsfest geladen. Da man von der ältesten Fee seit langer Zeit nichts mehr hörte, und demnach annahm, sie sei dahingeschieden, lud man sie gar nicht erst ein, und doch erscheint sie wie Malefiz wie selbstverständlich bei dem Feste. Weil man ihr jedoch keinen goldenen Löffel mehr anbieten kann, grämt sie sich ob der Beleidigung und verflucht das junge Mädchen in seiner Wiege zum Tode. Hier nun ist die Formulierung wichtig. Denn sowohl bei Perrault als auch bei den Grimms hieß es, dass der Tod im fünfzehnten Lebensjahr erfolgen soll, nicht wie bei Disney bis zur Vollendung eben jenes. Durch die kleine Änderung ist es Dornröschen im Märchen also vergönnt, ihre Zeit bis dahin in relativer Sicherheit im königlichen Schlosse zu verweilen, während ihre disneysche Adaption mit den guten Feen in den Wald ziehen muss. Und da soll einer nochmal sagen, auf die Formulierung käme es nicht an.

Eines Abends sagte sie zu ihrem Haushofmeister: Morgen zu Mittag will ich die kleine Morgenröte verspeisen!

(Die schlafende Schöne im Walde | Charles Perrault)

Mangelnde Vorsicht

Auch bei Perrault wird der Fluch des Todes in den des Schlafes verwandelt, jedoch wird hier von Beginn an ein Schlaf von einhundert Jahren vorhergesagt, bevor ein junger Prinz sich der schlafenden Schönen nähern könne. Wie auch bei Disney werden im letzten Moment alle Sicherheitsvorkehrungen über Bord geworfen. Haben die guten Feen am letzten Abend den Zauberstab geschwungen, so verlassen König und Königin in Dornröschens fünzehnten Lebensjahr das Schloss und begeben sich allein auf eine längere Reise. Warum auch nicht, es ist ja nur das entscheidende Jahr für das eigene Kind und wozu soll man denn jetzt noch Vorsicht walten lassen. Das Unglück tritt – ach was! – tatsächlich ein, Haus und Hof schlafen mit der Prinzessin ein, und hundert Jahre vergehen (auch wenn es so mancher Tölpel trotzdem versuchte, durch die unwegsame Hecke zum Schlosse zu gelangen und unweigerlich sein Leben einbüßte). Nach Ablauf der Frist und recht undramatisch findet tatsächlich ein Prinz den Weg ins Schloss und drückt der Holden einen Kuss auf die kühlen Lippen. Mit einem etwas flappsigen „Du kommst aber sehr spät, mein lieber Prinz“ wacht Dornröschen auf und die Hochzeit wird gefeiert.

Ein glückliches Ende. Zumindest, wenn es nach Disney ging. Oder den Brüder Grimm. Denn beide Märchen enden an dieser Stelle, während Charles Perrault nun erst recht tief in die märchenhafte Trickkiste greift.

(K)ein Happy End?

Denn der nun verheiratete Prinz verheimlicht seine Hochzeit seinen Eltern bis zum Tod des Vaters. Erst jetzt zieht er mit Dornröschen und ihren beiden Kindern Morgenröte und heller Tag ins eigene Schloss. Doch bald schon lässt er seine Braut mit seiner Mutter allein, denn Krieg steht an. Die Schwiegermutter jedoch entpuppt sich als wahres Scheusal, denn es gelüstet ihr schon bald nach einer guten Mahlzeit. So befielt sie dem Haushofmeister, die kleine Morgenröte zu schlachten und sie in einer besonders schmackhaften Sauce anzurichten. Zum Glück für das liebe Kind – und uns entsetzte Leser – handelt der Haushofmeister ähnlich besonnen, wie einst schon der Jäger in Schneewittchen, und bringt der Königin stattdessen ein junges Reh. Das Kind jedoch versteckt er bei sich daheim. Wenige Tage später gelüstet es die Königin nun nach dem Jungen von Dornröschen und alsbald auch nach der jungen Königin selbst.

Gesättigt mit falschem Fleische, bricht die Königin in Tobsucht aus, als sie gewahrt, dass alle drei noch immer putzmunter im Haus des Haushofmeisters herumtollen. Sie lässt eine große Tonne mit Schlangen und Kröten füllen, um sich nun doch noch von all jenen und den elenden Verrätern zu befreien. Doch endlich, endlich, hat unser Prinz seinen heroischen Auftritt und schreitet im letzten Moment ein. Puh, Glück gehabt. Stattdessen springt die Königin selbst in die Tonne, aus Gram und Frust und vielleicht auch aus noch anderen guten Gründen.

Und wenn die Übrigen nicht gestorben sind, …

Aber halt, ihr habt noch immer nicht genug der Brutalitäten? Dann werfen wir doch noch einen kleinen Blick auf das Original des Originals. Dornröschens Urfassung stammt nämlich von dem Neapolitaner Basile und findet sich in dessen Pentameron von 1634 wieder. Dornröschen trug hier noch den klangvollen Namen Thalia, und nachdem sie sich in den Finger stach, wurde sie von ihrem königlichen Vater in einen Brokatsessel gelegt, woraufhin dieser dann für immer verschwand. Der König, nicht der Sessel. Eines Tages kommt nun der König eines benachbarten Königreiches zum Schloss und findet die Schlafende ganz alleine vor. Er ist geblendet von ihrer Schönheit, und weil sie nicht erwacht, während er an ihr reißt und zerrt und sie anschreit, da trägt er sie kurzerhand auf ein nahegelegens Lager und vergeht sich an ihr. Der Abartigkeit zum Trotz wird Thalia schwanger und gebärt Zwillinge, Mond und Sonne genannt. Auf der Suche nach Nahrung saugt ihr eines der Kinder den verfluchten Splitter der Spindel aus dem Finger, woraufhin die Schöne erwacht und den König damit bei seinem nächsten Besuch zutiefst erfreut.

Doch auch hier endet das Märchen nicht, denn des Königs eigentliches Weib ist ungnädig, ob des Betrugs und lässt anordnen, die Kinder Thalias dem König zum Festmahl vorzusetzen. Aber auch hier ergreift der Koch die rettende Initiative, bei der am Ende die amtierende Königin einem glühenden Feuer zum Opfer fällt.Thalia und ihre im tiefen Schlaf gezeugten Kinder sind gerettet und tatsächlich heiratet sie daraufhin den König. (Sind wir mal ehrlich, Männer vergangener Zeiten hatten einen äußerst seltsamen Realitätssinn.)

Wir sehen also: Die Geschichten früherer Zeiten waren wahrlich nicht kindgerecht und man möchte Disney danken für seine herrlich dramatisch-romantische, wenn auch ansonsten äußerst abgemilderte Version des ursprünglichen Märchens.


Disneys abendfüllende Zeichentrickfilme im direkten Vergleich zu ihren literarischen Vorlagen:
The Story behind.

Mehr Beiträge zu dieser Reihe gibt es hier:
Cap & Capper: Fuchs und Hund – Freunde oder Feinde?
101 Dalmatiner: Wertvoll gepunktet
Dumbo: Ich hab viel gesehen auf dieser Welt, …!
Bambi: Von Reh zu Hirsch
Aladdin: Der ungeschliffene Diamant
Arielle: Unter dem Meer
Robin Hood: Im wilden Sherwood Forest
Das Dschungelbuch: Dschungelgeschichten
Bernhard und Bianca: R-E-T-T-U-N-G
Schneewittchen: Spieglein, Spieglein, an der Wand
Die Eiskönigin: Völlig unverfroren adaptiert
Mulan: Vom Kampf der Geschlechter
Peter Pan: Auf ins Nimmerland!
Pocahontas: Das Farbenspiel des Winds
Alice im Wunderland: Ab durch den Kaninchenbau
Der Glöckner von Notre Dames: Der Narrenpapst
Die Hexe und der Zauberer: Das Schwert im Stein
Oliver und Co: Eine Katze unter Hunden
Basil, der große Mäusedetektiv: Von Mäusen und Detektiven
Pinocchio: Ein echter Junge?
Die Schöne und das Biest: Der äußere Schein trügt
Aschenputtel: Bibbidi-Bobbidi-Boo!
Hercules: From Zero to Hero
Küss den Frosch: Von Sumpfprinzen und falschen Prinzessinnen
Der Schatzplanet: Piraten traut man besser nicht
Tarzan: Der weiße Affe

8 Comments on “[The Story Behind] Die schlafende Schönheit

  1. Von der Ästhetik her gefällt mir die Disney Version absolut! Der kantige Zeichenstil, die Musik von Tschaikowski, „Einmal im Traum“… Ja gut, da spielt auch sehr viel Nostalgie mit rein, da ich den Film sehr, sehr häufig gesehen habe. 🙂
    Und tatsächlich kann ich es Disney in diesem Fall nicht verübeln, dass sie einiges aus den Originalen abgeändert haben. Die waren schließlich wirklich haarsträubend…

    Liebe Grüße
    Alina

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    • Huhu Alina!
      Ich liebe den Look des Films ebenfalls – der ist wunderbar passend und speziell (ähnlich wie ich den Herkules-Look super stimmig finde).
      Aber interessant wäre es schon gewesen, so eine menschenfressende Stiefmutter in einem Disneyfilm …… 😀

      Alles Liebe!
      Gabriela

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  2. Hallo Gabriela!
    Wow, das ist ja mal krass!
    Das Disney wieder mal etwas von den Originalgeschichten abweicht wusste ich, aber die Geschichten sind auch echt nicht kindgerecht.
    Ich hatte allerdings im Kopf, dass es 13 Feen waren und es um 12 goldene Teller ging und deshalb die letzte Fee sauer war. Aber naja, vielleicht war das auch nicht so korrekt. In dem Film kam auf jeden Fall eine Dornenhecke und der 100-jährige Tiefschlaf vor. Nicht nur von Dornröschen sondern des gesamten Hofstaates.
    Nach deinem Text weiß ich allerdings wo Anne Rice bestimmt ihre Inspiration zu ihrer Dornröschen-Trilogie gefunden hat, denn dort wird Dornröschen auch geweckt weil sich der Prinz an ihr vergeht.
    Liebe Grüße
    Diana

    Gefällt 1 Person

    • Huhu Diana!
      Tjaja, das war schon harter Tobak! Tatsächlich sind es bei den Grimms die 13 Feen und die goldenen Teller, im angeblich disneywegweisenden französischen Original gab es nicht ganz so viele Feen 😄

      Disney verzichtet auf den hundertjährigen Schlaf zugunsten des Prinzen, da der ja sonst nicht der hätte sein können, der bereits an Auroras Kinderbettchen stand. Allerdings gibt es eine Art Hommage daran, als er bei Malefiz eingesperrt ist, und sie ihm ausmalt, wann er endlich freikommt.

      Na das is ja auch makaber bei der Trilogie, alle Achtung!

      Liebste Grüße!
      Gabriela

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      • Ach, deshalb hatte ich 13 Feen im Kopf. Kenne nur die Grimm’sche Version neben der Disneyversion natürlich. 😉
        Klar, macht auch Sinn, sonst hätte man noch erklären müssen warum der Prinz mit über 100 Jahren noch so jung ist. 😀

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