Wenn aus Büchern Schätze werden.
Triggerwarnung: sexueller Missbrauch, DIS
Werbung | Autor: die Truppen von Truddi Chase | Titel: Aufschrei |
Übersetzerin: Hilke Schlaeger |
Erscheinungsdatum: 1987 | Verlag: Bastei Lübbe |
560 Seiten | Genre: Lebensbericht |
„Verschwiegenheit“, sagte er, „ist der Bruder des Inzest.
Aber ich möchte, dass Sie sich ganz sicher sind, bevor sie irgendetwas beginnen.“
„Ich bin mir sicher.“ Es klang bitter. „Ich habe geschwiegen, seit ich zwei Jhre alt war. Das ist eine Rechnung, für die ich keine Zeit brauche. Dies wird ein wichtiger Schritt für mich, einer, den ich tun muss, oder ich werde nirgendwohin mehr gehen.
(S.47)
Der Psychotherapeut Dr. Robert A. Phillips – im Verlauf des Buches als Stanley bezeichnet – hat bereits einige Erfahrungen gesammelt in der Therapie und Betreuung von Missbrauchsopfern. Doch als eine Frau namens Truddi Chase zu ihm kommt, wird er gemeinsam mit ihr lernen müssen, wie sehr eine Seele zerbrechen kann.
Aufschrei, geschrieben von den Truppen von Truddi Chase, ist ein unglaublich intensives Buch. Man muss sich Zeit nehmen dafür, man muss bereit sein für dieses Leseerlebnis, für die Vielschichtigkeit menschlicher Grausamkeit. Aber man wird als Leser belohnt, indem man einen tiefen, emotionalen sowie informativen Einblick bekommt, was es bedeutet, an dissoziativer Identitätsstörung (DIS) zu leiden.
Als Truddi Chase zu Dr. Philips kommt, weiß sie allerdings von all dem noch nichts. Auffällig sind die immer häufiger auftretenden Gedächtnislücken, die fehlenden Erinnerungen an vermeindlich simple Vorgänge im täglichen Leben, die völlige Leere, wenn sie sich an ihre Kindeit zurückzuerinnern versucht. Nur die Angst, die sitzt beständig in ihrem Inneren, eine bedrückende Melancholie, die sie sich nicht zu erklären weiß. Nur der vage Verdacht bleibt, dass ihr Stiefvater ihr etwas angetan haben könnte.
Truddis Martyrium beginnt bereits im Alter von zwei Jahren. Ich erspare euch die Details, allerdings kann sich wohl jeder selbst denken, wie schlimm die Erfahrung gewesen sein muss, die das Kind, welches Truddi einst gewesen ist, erlitten hat, damit sich ihre Seele spaltet. Es gibt kein Entkommen vor den immer neuen Grausamkeiten, die dem Stiefvater in den Sinn kommen, und von der Mutter kann Truddi keinerlei Hilfe erwarten. Über viele Jahre hinweg versucht sie sich einzureden, die Mutter hätte von nichts gewusst, nichts gesehen. Und doch gibt es da diese Stimmen in ihr, die etwas anderes berichten können.
Stimmen. Im Laufe der Therapie wird Truddi Chase 92 individuelle Persönlichkeiten in sich entdecken, die während ihrer Kindheit entstanden sind. Manche davon sind gefangen in ihrem ursprünglichen Alter, manche sind tot, manche nur die Spiegelbilder einstiger Individuen. Und die Frau, die zu Dr. Philips ging? Sie muss feststellen, dass auch sie zu einem bestimmten Zweck erschaffen wurde, dass auch sie nicht das erstgeborene Kind ist.
So grausam die Wahrheiten sind, die uns dieses Buch schildert, so interessant ist es zugleich. Truddis Geschichte wurde nicht wie beispielsweise Die drei Gesichter der Eve oder Sybil von außenstehenden Personen geschrieben, sondern von denen, die sich die Truppen von Truddi Chase nennen. Handschriftliche Manuskriptseiten beweisen eine Vielzahl an unterschiedlichen Schreibstilen; sie zeigen, dass nicht eine Person allein all die Erinnerungen aufzeichnete. Dass uns dieses Buch überhaupt vorliegt, ist Truddis Wille geschuldet, mehr für die Opfer solcher Erlebnisse zu tun. Außerdem hat sie sich während ihrer Sitzungen filmen lassen, um jungen Studenten die Chance zu geben, mehr darüber zu lernen, was Missbrauch mit einem Menschen tun kann.
Die Welt vor 40 Jahren war noch weitaus unwissender als heute, dissoziative Identitätsstörungen waren weithin reichlich unerforscht. Tatsächlich leiden viel mehr Menschen an DIS, als man gemeinhin annimmt. Vielen Betroffenen ist das eigene seelische Bild nicht bewusst, und ihre Umwelt hält die wechselnden, zu Tage tretenden Persönlichkeiten für Gefühlschwankungen oder eine große emotionale Bandbreite.
Damit die Seele eines Menschen – meistens bereits im frühen Kindesalter – überhaupt auseinanderfällt, bedarf es neben einem zutiefst traumatischen Ereigniss eine sehr hohe Kreativität des Geistes. Denn dank dieser erschafft der menschliche Körper eine weitere Person mit eigenständigen Erinnerungen, individuellen Bedürfnissen, einem eigenen Charakter und teilweise ganz unterschiedlichen Gesundheitsmerkmalen. Je länger der Missbrauch anhält, desto mehr Persönlichkeiten sind mitunter nötig, um die immer wiederkehrenden Erlebnisse zu verarbeiten und abzuspalten, um den eigentlichen Kern zu schützen.
All das hätte nicht passieren dürfen. Truddis Mutter wusste von den Taten ihres Mannes, doch sie schaute weg. Und nicht nur das, sie leugnete es grundlegend und gab ihrer Tochter die Schuld daran. Vom Stiefvater missbraucht und von der Mutter aufgrund ihrer eigenen stummen Hilflosigkeit geschlagen und vernachlässigt, erträgt Truddi vierzehn Jahre lang, was keiner ertragen sollte. Es muss auch außerhalb der Familie Menschen gegeben haben, die etwas bemerkt haben müssen, die absichtlich weggesehen haben, die die Augen verschlossen vor dieser traumatischen Kindheit.
Ich weiß, es ist ein hartes Thema, etwas, das unsere heile Welt brüchig werden lässt. Aber wir dürfen nicht länger wegschauen. Wenn jemand zu euch kommt und euch um Hilfe bittet, helft ihm. Wenn ihr bemerkt, dass bei einem Kind irgendetwas nicht so zu sein scheint, wie es sollte, fragt nach. Lasst euch nicht abwimmeln, bleibt dran. Wenn ihr in der Nachbarschaft Schreie von Kindern hört, immer und immer wieder, sagt euch nicht, es geht euch nichts an. Denn es geht jeden etwas an. Wenn wir nicht wegschauen würden, wenn wir für die da wären, die es am dringendsten nötig haben, würden solche Geschichten nicht erzählt werden müssen. Und doch werden sie erzählt. Und ihr solltet sie lesen.
Truddi Chase war 1990 bei Oprah Winfrey zu Gast und sprach über das, was ihr widerfahren ist. Dies ist ihre Geschichte:
Augen auf!
Mit Literatur zu mehr Aufmerksamkeit im Alltag
Marie Anhofer – Rabenvieh | Marie Anhofer spricht über ein Leben danach |
Janina Michl – Bis zum Hals | Janina Michl spricht über Bulimie |
Elke Vesper – Mörderische Familie | Elke Vesper spricht über sexuellen Missbrauch |
Truddi Chase – Aufschrei | | Eine Überlebende spricht über unerfüllte Wünsche
Pingback: [Augen Auf] Marie Anhofer spricht über ein Leben danach – Buchperlenblog
Pingback: [Augen Auf] Marie Anhofer – Rabenvieh – Buchperlenblog
Pingback: [Augen auf] Janina Michl – Bis zum Hals – Buchperlenblog
Pingback: [Augen auf] Janina Michl spricht über Bulimie – Buchperlenblog
Pingback: [Augen auf] Elke Vesper – Mörderische Familie – Buchperlenblog
Pingback: [Augen auf] Elke Vesper spricht über sexuellen Missbrauch – Buchperlenblog
Pingback: [Augen Auf] Eine Überlebende spricht über unerfüllte Wünsche – Buchperlenblog
Huhu meine Feine!
Mich hat das Buch nachhaltig beeindruckt, sehr eindringlich und einnehmend und mir bis heute im Kopf, obwohl ich es vor Jahren gelesen habe. Auch bis heute ist die dissoziative Identitätsstörung umstritten, was ich schrecklich finde, denn es gibt eine Vielzahl an Beispielen, Berichten und weiteres, die dies belegen. Ich würde gerne schreiben, wie faszinierend es ist, wozu unser Gehirn imstande ist, finde es zeitgleich jedoch sehr unpassend, da es für diesen Schutzmechanismus, wie du ja auch schreibst, ein einschneidendes Trauma vorangeht …
Liebst,
Janna
LikeGefällt 1 Person
Huhu meine Liebe!
Ich finde es furchtbar, dass es immernoch Leugner gibt, die nicht einsehen wollen, dass es so etwas tatsächlich gibt. Und dass es verbreiteter ist, als angenommen, weil viele nicht offen damit ungehen dürfen.
Alles Liebe!
Gabriela
LikeGefällt 1 Person
Kann dir nur zustimmen!
LikeGefällt 1 Person
Pingback: Rückblick auf den Februar – Buchperlenblog
Pingback: [Rezension] Liz Coley – Scherbenmädchen – Buchperlenblog
Pingback: [Gewinnspiel] 1000 Buchseiten suchen ein Zuhause! – Buchperlenblog