Schweigend saß er am Rand der Klippen, und sah den wolkenartigen Wellen unter sich dabei zu, wie sie schäumten, sich aufbäumten und wieder zusammenbrachen. Auch er würde sich gerne aufbäumen, würde gern gegen einen Felsen schlagen und daran zerschellen, das sah man ihm an. Doch dann ließ er die Schultern sinken, legte den Kopf in seine Hände und verschloss die Augen vor unserer fremden Welt.
Lange Zeit beobachtete ich ihn, wie er dort saß. Der Junge, dem man sein junges Alter so sehr ansah. Der Junge, der so anders war als wir anderen Kinder. Der Junge, der eines Tages aus einem Raumschiff stieg und beschloss, mit seiner Familie hier bei uns zu leben. Hier, auf Planet C3PG.
Der erste Mond war bereits aufgegangen, als ich beschloss, mich zu ihm zu setzen. Ich näherte mich ihm vorsichtig, roch seinen so fremdartigen Geruch, sog ihn tief ein. Ich überlegte, ob ich ihn berühren sollte, so sehr traf mich sein trauriger Anblick. Dass es Trauer war, was er fühlte, dass wusste ich damals noch nicht. Das weiß ich erst jetzt. Seit er weg ist.
Schweigend saßen wir nebeneinander, nur Zentimeter trennten uns. Ich sah in sein Gesicht, seine schmerzerfüllten Augen. „Was hast du?“
Nach kurzem Zögern wandte er mir sein Gesicht zu. „Ich vermisse sie“, flüsterte er. „So sehr, dass es mich innerlich zerreißt.“ Er verbarg sein Gesicht erneut vor mir, ich sah, wie seine Schultern bebten und wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte. Was ich sah, was er fühlte, das war mir so fremd. Zwar kannte ich die Worte Trauer, Schmerz, Wut, Liebe. Doch kannte ich sie nur als Worte, nicht als Emotionen.
Wir, hier auf C3PG, wir kennen keine Gefühle. Das mag hart klingen, aber bisher lebten wir glücklich so. Wenn man es glücklich nennen kann, denn Glück – so habe ich gelernt – ist ebenfalls eine Emotion. Wir kannten es hier nicht anders. Nicht, bis Jonathan mit seiner Familie ankam.
Doch nun ist seine Familie nicht mehr. Die rauen Wetterbedingungen bei uns fordern von Zeit zu Zeit ihre Opfer. Wer sich nicht ausreichend anpassen kann, der stirbt. Wir sehen das als notwendiges Übel an. Es ist, wie es ist.
Sie hätten nicht herkommen dürfen. Von all den Planeten hätten sie sich nicht unseren aussuchen sollen. Dann würden sie vielleicht noch leben. Dann würde ich nicht wissen müssen, was es heißt, zu lieben. Dann würde ich nicht wissen müssen, was es heißt, zu trauern.
Jonathan war ein seltsamer Junge. Eigenwillig, den Kopf voll verrückter Ideen. Als seine Eltern noch lebten, wollte er in den Wolken unter uns tauchen gehen, wollte Wolkenfische fangen, wie er mir sagte. Immer wieder habe ich ihm versucht zu erklären, dass es keine echten Wolkenfische gibt. Dass man ins Nichts fällt, wenn man hinunter springt. Natürlich sehe ich sie auch, die Wolkenfische. Sie springen in den Schlieren des Wassers zu uns hoch, sie glitzern, wenn Sonnenlicht auf sie fällt. Doch sie sind nur Trugbilder, Scheinwesen, Geister aus fernen Welten.
Ich habe Jonathan gefragt, was Liebe ist. Und er beschrieb es mir, so gut er konnte. Er erklärte, dass man es eigentlich nicht erklären kann. Dass man es fühlt. Ich wusste nicht, was es heißt zu fühlen. Ich beobachtete ihn, seine Mimik, wenn er von seinen Eltern sprach. Von seiner Heimat, von fernen Freunden, von Dingen, die ihm wichtig waren. Ich beobachtete ihn, als er um seine Familie trauerte. Als er ganz allein war. Und ich empfand etwas. Tief in mir regte sich ein warmes Etwas, weich wie Wolkenschaum, wenn ich ihn ansah, wenn er lächelte. Und es gab mir einen tiefen Stich, wenn er traurig aussah. Wenn er geweint hatte, brannte etwas in mir. So etwas kannte ich nicht, es machte mir Angst.
Halt dich von ihm fern, sagten die anderen zu mir. Halt dich von ihm fern, er verändert dich.
Aber ist das so schlimm? Ist es schlimm, dass ich etwas fühlen kann?
Ja.
Ja, das ist schlimm.
Denn seit Jonathan bei den Wolkenfischen ist, vermisse ich ihn.
Seit Jonathan bei den Wolkenfischen ist, trauere ich um ihn.
Seit Jonathan bei den Wolkenfischen ist, weiß ich, ich liebe ihn.

Der Writing Friday ist eine neue Aktion von readbooksandfallinlove! Jeden Monat gibt es neue Schreibaufgaben, denen man sich widmen kann. Heute lautete die Aufgabe: Erkläre einem Alien, was Liebe ist. Doch kann man Liebe erklären?
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