Wenn aus Büchern Schätze werden.
Ein Regentropfen fiel auf ihr Gesicht. Unwillig wischte Susan ihn weg, versuchte sich umzudrehen. Ein weiterer Tropfen traf auf ihre Hand, dann noch einer. Was war das? Mühsam versuchte sie, ihre Augen zu öffnen, doch es fiel ihr schwer, so schwer, als hätte sie tagelang geschlafen. Ein Schaukeln unter ihr ließ sie nun doch unruhig werden. Wo bitte war sie? Ach ja, die Kreuzfahrt, sie war auf einem Schiff. Natürlich schaukelte es hin und wieder auf den Wellen. Aber wieso wurde sie plötzlich immer nasser? Sie rieb sich über die Augen, öffnete sie blinzelnd – und erschrak fürchterlich. Über ihr brauten sich dunkle Wolken zusammen, Wind kam auf und ließ ihren Untergrund noch ärger hin und her wippen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Um sich herum sah sie nichts als Wasser. Wellen schwappten gegen die Holzplanken ihres kleinen Bootes. Moment – ein Boot? Mit einem Schlag war sie hellwach. Sie war mutterseelenallein in einer kleinen Nusschale mitten im Meer, während sich ein Sturm um sie herum aufbaute.
Langsam kam die Erinnerung zurück. Sie war mit ihrem Mann auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen, er hatte diese Reise bei einer Tombola des letzten Firmenfestes gewonnen. Sie wollten bis hoch nach Norwegen fahren, dort ein paar nette Tage an Land verbringen und dann mit einem anderen Schiff zurückfahren. Es sollte die größte Reise ihres gemeinsamen Lebens werden. Doch von Anfang an hatte sich Max seltsam verhalten. Er wirkte abwesend, blickte sich ständig um, als suche er etwas. Oder jemanden. Nur selten fanden ihre Augen die seinen, noch seltener konnten sie so ausgelassen lachen, wie sie es sich vorher so schön ausgemalt hatte. Und dann hatte sie die andere Frau gesehen.
Die Regentropfen fielen nun stetig, Susan spürte bereits, wie ihre Kleidung klamm wurde. Der Inhalt des kleinen Bootes war schnell überschaut, es gab im Grunde genommen rein gar nichts zu entdecken. Kein Ruder, keine Decken, nichts, was ihr gegen den Sturm auch nur ansatzweise helfen konnte. Aus einiger Entfernung zuckte ein grellweißer Blitz über den dunklen Himmel, dann ertönte ein viel zu lautes Donnern. Susan zuckte vor Schreck zusammen.
Die andere Frau hatte leuchtendes kastanienbraunes Haar, das sie ständig neu über ihren Schultern zu drapieren schien. Sie lächelte niemanden an, niemanden, außer Max. Schon als sie die Andere das erste Mal erblickte, zog sich in Susans Innerem ein Knoten zusammen. Irgendetwas war seltsam an ihr.
„Kennst du sie?“, fragte sie ihren Mann betont nebensächlich, nickte der Brünetten zu und sah dann ihrem Mann fest in die Augen. Er verneinte, verzog dabei aber den Mund einen kurzen Moment zu einem verräterrischen Lächeln. Aha, hatte sie doch richtig vermutet.
„Sie ist ganz hübsch, finde ich“, versuchte Susan erneut das Gespräch auf die Fremde zu bringen. Doch Max schien aus seinem ersten Fehler gelernt zu haben, denn diesmal antwortete er gar nicht, sondern wandte sich brüsk ab und führte sie am Arm in einen anderen Teil des großen Speisesaals.
Die Wellen wurden immer höher, die Täler dazwischen tiefer. Susan klammerte sich mit einer Hand am Rand ihrer Nussschale fest, panisch blickten ihre Augen über die aufgewühlte See. Eine besonders hohe Welle brachte ihr Boot so stark zum Schwanken, dass sie mit der Hand abglitt und ihren Arm ins Wasser tauchte. Es war eiskalt. Sofort bildete sich eine Gänsehaut und sie zog den Arm mit einem lauten Keuchen zurück.
Die Frau tauchte nun ständig in ihrem Blickfeld auf. Sie ging zum Essen, wenn Max und Susan erschienen, sie saß nur wenige Tische neben ihnen, so dass Susan sich merkwürdig belauscht fühlte. Sie stand an der Reling und genoss den Ausblick, wenn sie Arm in Arm mit Max über Deck flanierte. Einmal kam sie ihr auf die Toilette nach, zog ihren extravaganten roten Lippenstift nach und warf Susan einen unverschämt offenen Blick zu. Doch Susan sagte nichts, ihr fehlte schlicht und ergreifend der Mut dazu. Doch diese Frau wollte ganz eindeutig etwas von ihrem Mann.
Sie waren bereits an den britischen Inseln vorbei, das Wetter wurde merklich kühler. Susan stand eines Abends allein auf dem Deck des Kreuzers, beobachtete die Wellen unter sich und dachte über Max und die brünette Frau nach, als sie Schritte hinter sich hörte. Sie drehte sich nicht um, nahm aber schwach das Parfüm einer Frau wahr. Noch zwei Schritte, und die Fremde stand neben ihr an der Reling.
„Was wollen Sie von uns?“, brachte Susan nach einigen Sekunden hervor. Sie sahen sich nicht an, beide Frauen blickten hinaus aufs dunkelblaue Meer.
„Ich möchte mich entschuldigen. Das hätte ganz anders ablaufen können, aber …“
„Was meinen Sie? Wofür entschuldigen?“
Doch eine Antwort hörte sie nicht mehr. Ein Schlag auf den Hinterkopf, vielleicht. Alles wurde dunkel um sie herum.
Der Sturm tobte nun um Susan in ihrem kleinen Boot, die Wellen warfen sie hin und her, und überspülten die niedrigen Holzwände. Zuerst versuchte Susan das Wasser mit ihren Händen wieder hinauszubefördern, doch bald schon sah sie die Sinnlosigkeit ihres Tuns ein. Nur ein Wunder konnte sie noch retten. Die nächste Welle trug sie mit sich fort, stieg immer höher – und brachte das Boot schlussendlich zum Kentern. Das Eintauchen war ein einziger Schock, das Wasser eisig kalt, Hals und Lunge brannten, als sie bei einem verzweifelten Aufschrei Meerwasser schluckte. Das Boot trieb in einiger Entfernung von ihr verkehrt herum. Susan paddelte, versuchte zu ihrem winzigen Schutz zurückzukehren, doch die Wellen ließen nicht locker.
Sie war müde, ausgelaugt, restlos erschöpft von dem Versuch, sich selbst zu retten. Ihr Körper war völlig unterkühlt, als eine weitere Welle das Boot gnädigerweise wieder in seine Ursprungsposition brachte. Das Gewitter verzog sich langsam, der Regen wurde weniger. Hörte ganz auf. Susan konnte sich endlich dem Boot nähern und hielt sich mit beiden Armen zitternd daran fest. Die Wellen beruhigten sich langsam, bald wurde es nur noch zu einem entfernten Ziehen an ihren Beinen, die kraftlos unter ihr hingen. Als die Sonne am Horizont aufging, zog sie sich in einem letzten Akt des Überlebenswillen zurück in die kleine Nussschale. Völlig entkräftet lag sie auf den Planken, zitternd und wimmernd, aber am Leben. Und in einiger Entfernung hörte sie das laute Horn eines Schiffes.
Der Writing Friday ist eine Aktion von readbooksandfallinlove! Jeden Monat gibt es neue Schreibaufgaben, denen man sich widmen kann.
Die heutige Aufgabe lautete Susan öffnet die Augen und findet sich mitten auf dem Meer in einem kleinen Beiboot wieder. Erzähl die Geschichte – wie kam es dazu und wird sie sich in Sicherheit bringen können?
Ihr wollt mehr schreiben und braucht einen Anreiz? Dann schaut vorbei!
Weitere Teilnehmer sind:
Wer ist diese Frau🙊
Spannende Geschichte😊
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Lieben Dank =) Wer sie nun genau ist, darüber darfst du dir gern selbst ein paar Gedanken machen 😄
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Ist schon automatisch passiert 😄
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Hmm, das klingt sehr spannend 🙂 Für mich hört es sich an, als wäre die Frau vielleicht ein Teil von Susan selbst, den sie bisher versteckt hat. Die Geschichte hallt auf jeden Fall noch etwas nach, darüber kann man länger nachdenken 🙂
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Ein sehr schöner Denkansatz! Freut mich, dass du über meine kleine Geschichte so nachdenkst =)
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Sehr mysteriös. Ich mag die Offenheit der Geschichte. 😇
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Dankeschön =) da kann sich jeder selbst überlegen, wie es weitergeht 😊
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