Wenn aus Büchern Schätze werden.
Erschütterndes Zeugnis davon, wie die Zivilisation binnen weniger Tage zerfällt.
Werbung | Autor: Franzobel | Titel: Das Floß der Medusa |
Erscheinungsdatum: 2017 | Verlag: btb |
591 Seiten | Genre: historischer Roman / Tatsachenbericht |
Der Schiffsjunge zählte dreizehn, vierzehn, fünfzehn ausgemergelte Gestalten. Die meisten waren nackt, trugen aber Stiefel, die an den dünnen Beinen komisch wirkten – wie Kinderfüße in zu großen Schuhen. Wandelnde Skelette!
(S.8)
Im Juni 1816 läuft die französische Fregatte namens Medusa nebst Begleiterschiffen aus, um die Küsten Senegals zu erreichen. An Board befinden sich über vierhundert Menschen, die, ob nun einfacher Matrose, Soldat, künftiger Gouverneur oder Familie mit ambitionierten Zielen in der fremden Welt, einer strahlenden Zukunft entgegen schauen. Der Kapitän, ein unbedarfter Reicher mit guten Beziehungen, wird zuvor mehrfach gewarnt, denn in der Nähe des Ziels befinden große Sandbänke unter dem Meer, schon viele Schiffe sind hier gekentert. Doch der Kapitän verlässt sich auf seinen Freund und Navigator, der jedoch – wir werden es erleben – ebenfalls ein Hochstapler ist. Und so kommt es, wie es kommen muss: Die Medusa läuft auf Grund.
Dieses Schiffsunglück, welches wir auf knapp 600 Seiten miterleben müssen, ist keine Fiktion, es ist passiert. Und wir verdanken es einem Überlebenden, dem Schiffsarzt Savigny, der Aufzeichnungen über das gesamte Geschehen veröffentlichte, dass wir heute nicht nur die bereinigte Version des Ganzen kennen.
Der Autor Franzobel nimmt uns in einem beinahe herzlichen, wenn auch immer leicht ironischen Tonfall mit auf das weite Meer. Zu Beginn scheint die Fahrt noch recht unspektakulär zu verlaufen. Natürlich, Raufereien und Streiterein unter Seeleuten sind Gang und Gäbe, und so mancher muss derbe Scherze über sich ergehen lassen. Doch all das, dieses Vorgeplänkel ist rein gar nichts, gegen die Gräuel, die der Besatzung der Medusa in nur wenigen Tagen noch blühen werden.
Trotz aller Warnungen seitens der Offiziere an Board nimmt die Medusa einen falschen Kurs ein und sitzt schließlich auf einer Sandbank fest. Nach einigen Versuchen, das Schiff loszubekommen, entscheidet man sich dafür, die Besatzung auszubooten. Aber wie es meistens so ist, die Rettungsboote sind zu wenig, und die gutbetuchte Gesellschaft des Schiffes weigert sich, neben dem gemeinen Pöbel Platz zu nehmen. So kommt es, dass einhundertsiebenundvierzig Menschen nur noch Platz auf einem zwanzig Meter langen Floß finden, welches kurz zuvor gebaut wurde. Während in manchem Rettungsboot nur fünfundzwanzig Menschen ihrem Schicksal harren, befindet sich das Floß dank seiner völligen Überlastung hüfttief im Wasser. Und dann wird auch noch die Schleppleine gelöst, dieser letzte Rettungsanker, mit dem die schwimmenden Masten an Land gezogen werden sollten.
Plötzlich alleingelassen, vergeht nicht einmal die erste Nacht, ohne dass die Übriggebliebenen damit beginnen, sich auszudünnen. Noch ist ein wenig Ration da, noch ist die nahende Rettung in den Köpfen verankert, und dennoch werden bereits einige Bedenken nebst MItüberlebenden über Board geworfen. Und so treiben wir dahin, dreizehn Tage unter freiem Himmel, Durst und Hunger leidend, und müssen dabei zusehen, wie die Zivilisation im Herzen der Menschen zu Grunde geht. Dreizehn Tage nur, die am Ende lediglich fünfzehn überleben werden. Fünfzehn von Einhundertsiebenundvierzig. Was mit dem Rest passierte? Ertrunken. Verdurstet. Verhungert oder massakriert. Und am Ende gegessen.
Der Schiffsarzt Savigny, der all diese Taten, diese Verrohung unter den Menschen, miterlebt hat, schrieb hinterher dem Marineministerium einen Bericht, wurde daraufhin der Verleumdung und des Hochverrats bezichtigt, sollte einen Widerruf schreiben und das Ansehen des Kapitäns und seines Navigators wiederherstellen . Erst als die Schriften auch bei Journalisten landeten, wurde ein Gerichtsverfahren gegen den Kapitän der Medusa angestrebt und dieser zu drei Jahren Haft verurteilt. Was den wenigen Überlebenden des Schiffbruchs, ob nun auf dem Floß oder in einem Boote, nun auch nicht mehr wirklich half.
Ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben, denn es ist ein wichtiges Zeitzeugnis. Und ich bin froh über den halbwegs scherzhaften Tonfall, dessen sich Franzobel hier bemüht, um das ganze Geschehen verkraftbar zu gestalten. Es ist ein brutales Buch, es zeigt die kleinen und vor allem die großen Übel der Menschheit, die sich hinter der hauchdünnen Maske der Zivilisation vermutlich bei jedem einzelnen von uns verbergen. Oder was würdet ihr tun, um zu überleben?
Idee ★★★★★ ( 5/5 )
Handlung ★★★★★ ( 5/5 )
Charaktere ★★★★★ ( 5/5 )
Sprache ★★★★★ ( 5/5 )
Emotionen ★★★★★ ( 5/5 )
= 5 ★★★★★
Hier geht’s zur Übersicht des historischen Novembers!
Da läuft es mir direkt wieder eiskalt den Rücken hinunter. Deine Schilderungen zum Buch waren ja schon schlimm, aber es so zusammengefasst zu lesen, das trifft mich direkt nochmal ins Herz. Ein wichtiges Buch, was seinen Platz in unserem HistoNov auf jeden Fall verdient hat.
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Oh ja, da kann ich dir nur zustimmen. Ich bin froh, dass ich es jetzt gelesen habe, auch wenn es an mancher Stelle doch SEHR hart war. Auch und gerade der menschlichen Unmöglichkeit wegen.
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Hallo Gabriela!
Siehst du, hat sich schon gelohnt auch mal beim historischen November bei dir vorbeizukommen. 😉
Deine Rezension hat mich wirklich neugierig gemacht und ich denke, ich werde mir das Buch mal näher ansehen.
Danke und auf das nächste Mal.
Liebe Grüße
Diana
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Liebe Diana!
Na siehste, dann freu ich mich doch sehr, dass ich dich auch auf ein historisches Schiffsdrama aufmerksam machen konnte. (Das sich im übrigen sehr modern liest).
Alles Liebe!
Gabriela
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