Liebe Bücherfreunde – werte Geschichtenliebhaber!
Heute ist es nun soweit, der Spuk findet den Weg auf unsere Seite der Welt. Doch wie wird es wohl Marie ergehen, wenn sie sich mitten in der Nacht dem Quartier Donatis nähert? Lest selbst …
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Er spürte, dass eine Veränderung bevorstand. Lange schon, eh die Sonne den Horizont verließ und die Welt in tiefen Nebel hüllte, spürte er sie. Doch was würde der Auslöser dafür sein? Eine merkwürdige Nervosität erfasste ihn. Er glitt lautlos von einer Ecke des Raumes in die andere, rast- und ruhelos, immer hin und her. Was würde geschehen?
Die Kirchenuhr schlug in der Finsternis, einmal, zweimal. Mitternacht war längst vorüber. Vielleicht hatte er sich geirrt, vielleicht… Da! Etwas knarzte. Er bahnte sich seinen Weg vorbei an winzigen verspielten Figurinen, erlesenen Vasen und mannshohen Spiegeln. Ein blasses Gesicht erschien an einem der Fenster. Eine junge Frau drückte die Nase an die Glasscheibe und blies ihren warmen Atem daran, so dass die Scheibe beschlug. Still wartete er ab, wer war sie? Und warum lugte sie so verstohlen hier zu ihm hinein? Dann war sie verschwunden. Doch nur Augenblicke später ein Rütteln am Türknauf. Donati hatte nicht abgeschlossen, der alte Narr. Schon war sie drinnen. Aber mehr als einen Schritt traute sie sich nicht hinein, da musste er helfen. Flink wandelte er durch den Raum und schon fiel die Tür hinter ihr knarrend ins Schloss. Köstlich, wie sie sich erschrocken umdrehte, einfach köstlich!
Er genoss ihren Anblick, ihre bebenden Lider. Ein junges Mädchen, kaum dem Windelalter entstiegen. Er schnupperte an ihr, witterte die Angst in ihrem Atem. Was wollte sie hier, was nur, was? Egal, sie war der Schlüssel zur Veränderung, das wusste er nun. Endlich war es soweit! Ein Blick zurück, und er sah den schlafenden Haarschopf seines Gefängniswärters im rückwärtigen Teil des kleinen Ladens, den sie für diese Tage gemietet hatten. Sie musste ihn nur noch befreien.
Er beschloss, sich ihr zu zeigen. Zuerst ganz sacht, nicht zu sehr überrumpeln. Er wollte nicht, dass sie sogleich floh. Also glitt er in die gläserne Figur einer Schäferin hinein, die sie erstaunt betrachtete. Die nahm sie gerade in die Hand, als der Schatten hinein fuhr und – beinahe hätte sie sie fallen gelassen! Stattdessen umklammerten ihre zitternden Finger die Figur und sie starrte unverwandt hinein. Der Schatten wurde größer, füllte das Glas mit Dunkelheit aus. „Es ist wahr …“, hörte er sie flüstern. Ja, sieh mich an, mich, nicht die Figur. Sieh mich an und befreie mich…, dachte der Schatten voller Inbrunst, konzentrierte sich ganz auf die hypnotische Wirkung des Pulsierens.
Marie sah, und sah doch nicht. Sie wusste, die Figur war durchsichtig, als sie sie in die Hand nahm und doch war sie jetzt erfüllt von einem undurchdringlichen Schwarz. Behutsam setzte sie die Schäferin zurück in das Regal. Dann wandte sie sich dem Spiegel zu, der in einer Ecke stand und den düsteren Raum zurückwarf. In der Stille hörte sie das Schnarchen des fremden Glasbläsers. Leise, sie musste leise sein. Sie dachte, wenn sie der Schattenfrau helfen wollte, dann nur über den Spiegel. Dieser würde ihr Bild zeigen, da war sie sich sicher. Wie es danach weitergehen würde, das sähe sie dann schon. Doch das Spiegelbild war nur ihr eigenes. Sie trat näher heran, betrachtete sich gespannt von oben bis unten. Als ihr Blick über die Regalflächen im Hintergrund glitt, zuckte sie kurz zurück. War da nicht…? „Madame Donati? Zeigen Sie sich bitte, ich will Ihnen helfen“, flüstere Marie. Nichts passierte.
Der Schatten wartete auf den rechten Augenblick. Der Spiegel war unzerstörbar, das wusste er. Wie oft schon hatte er Donati aus eben diesem beobachtet, hatte ihm gedroht und geschworen ihn zu töten, sollte er nur den kleinsten Riss in der Oberfläche des Glases finden. Doch nie, in all den Jahren nicht, war es ihm gelungen, seinen Plan in die Tat umzusetzen, Rache zu üben für die Schmach, hier festzusitzen. Er, der Schatten des Großen und Mächtigen, gefangen in den Spiegeln und Gläsern dieses Wichtes Donati. Auf ewig dazu gezwungen, seinen Reichtum zu mehren und niemals frei zu sein. Und alles wegen eines faulen Zaubers, eines Hokuspokus‘ aus einem Buch. Spiegelmagie, zum Teufel damit! Doch die Veränderung, sie war hier, er wusste es, musste daran glauben. Komm nur näher Mädchen, komm nur! Er wurde ungeduldig.
Ihr Gesicht im Spiegel zerschmolz. Ungläubig sah sie zu, wie ihre Augen zu schwarzen Löchern wurden. Dann verschwand ihr aufgerissener, zu einem stummen Schrei verzerrter Mund, die Nase. Ihr Gesicht war ein Loch, ein gähnendes finsteres Loch voll pulsierender Dunkelheit! Sie hielt es nicht aus, mit einem schrillen Schrei drehte sie sich auf dem Absatz um. Hier konnte sie nicht helfen, sie musste weg! Mit fliegenden Armen wandte sie sich der Tür zu und stieß dabei versehentlich eine der Figuren an, die in einer Vitrine standen.
Da, die Chance war gekommen! Schnell glitt er aus dem Spiegel hinaus und in die Figur des kippenden Clowns hinein. Ein kurzes Schwindelgefühl und dann … er fiel. Hätte er eine Stimme gehabt, er hätte geschrien, gejauchzt, er hätte gebrüllt vor grenzenloser Freude! Doch der einzige Laut erklang, als die gläserne Figur auf den Boden prallte und zerschellte. Klirr. Er war frei.
Marie riss die Tür auf und warf einen letzten Blick hinter sich. Sie erkannte den Fehler, den sie begangen hatte sofort. Denn schwarzer Rauch waberte plötzlich durch die Luft, rauschte durch den dunklen Raum und manifestierte sich dann zu etwas Ungeheuerlichem. Sie schrie auf, drehte sich wieder um und stürmte hinaus in die mondlose Nacht. Kaninchenloch, dachte sie. Nie wieder schaue ich hinab ins Kaninchenloch!

Ende.

![[Kurzgeschichte: Spiegelmagie] Schatten in Glas](https://buchperlenblog.com/wp-content/uploads/2019/10/uberschrift_spiegelmagie.jpg?w=500)





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