
Meine Lieben!
In der Kürze liegt die Würze ist eine altbekannte Redewendung, und mitunter liegt gerade in den kurzen Momenten einer Geschichte ein ganz besonderer Reiz verborgen. Schauen wir heute also mal in die Sammlungen, die all die großen und kleinen, lustigen und schaurigen Kurzgeschichten von Neil Gaiman vereinen!

Smoke and Mirrors
Short Fictions and Illusions
Zugegeben. Nicht jeder mag Kurzgeschichten. Es gibt keine langsame Einführung in die neue Welt, in die Charaktere, in die Handlung. Man wird hineingeworfen in eine Geschichte, die genauso neu und aufregend ist wie der erste Frühlingswind im März.
Nachdem mir Coraline den Weg geebnet hatte, betrat ich die Welt der Kurzgeschichten mit Neil Gaiman. Smoke and Mirrors war meine erste Anthologie und man erkennt an ihren zerlesenen Seiten, wie oft sie seitdem immer wieder in meine Hand gewandert ist. Gaiman hält hier eine Fülle an Geschichten bereit, die sich in ihrer Gesamtheit allesamt unterscheiden.
30 Geschichten versammeln sich in der englischen Ausgabe. Natürlich gibt es die stärkeren und die schwächeren Geschichten, die, die man immer wieder vergisst und die, die einem auch über Jahre hinweg im Gedächtnis bleiben. Eine dieser Geschichten ist Troll Bridge.
Troll Bridge ist die Geschichte eines Jungen. Neu in der Gegend erkundet er die nähere Umgebung eingehend, streift durch die Wälder und stößt eines Tages auf einen gewundenen Pfad. Er folgt ihm, tiefer und tiefer, das Licht scheint zu glitzern und die Realität zu verschwimmen. Schließlich kommt er zu einer Brücke, unter der ein gewaltiger Troll haust. „Ich fresse dein Leben“, sagt er und reiß schon das Maul weit auf. Doch der Junge ruft, „Ich schmecke noch gar nicht, ich habe ja noch gar nicht richtig gelebt. Ja, ich kann ja noch nicht einmal pfeifen!“ Und der Troll überlegt und gewährt ihm schließlich sein Leben, unter der Bedingung zurückzukehren, sobald er älter geworden ist. Im Laufe der Geschichte treffen der Junge und der Troll immer wieder aufeinander, und immer kann er sich herauswinden, andere vorschieben, davonlaufen. Doch sein Schicksal war bereits in Kindertagen gezeichnet, es gibt kein Entrinnen. Oder doch?
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„I heard you, Jack“, he whispered in a voice like the wind. „I heard you trip-trapping over my bridge. And now I’m going to eat your life.“
(S.62 | Troll Bridge)
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Die Kurzgeschichten in diesem Band haben meistens etwas subtil gruseliges an sich. Etwas, das die Nackenhaare zu Berge stehen lässt, wenn man über die angedeuteten Geschehnisse nachdenkt. Sie spielen mit dem Leser wie der Magier mit dem Zuschauer. Sie verstecken Geheimnisse hinter Rauch und Spiegeln.

Fragile Things
Short Fictions and Wonders
Mit Fragile Things zog die zweite Kurzgeschichtensammlung bei mir ein. Zerbrechliche Dinge, wie die deutsche Ausgabe sich nennt, beinhaltet weitere 31 Kurzgeschichten. Dieses Mal geht es um die Fragilität der Welt, denn so vieles kann so schnell zerbrechen. Herzen, Menschen, Welten.
Wie auch schon bei Smoke and Mirrors lohnt es sich, die Einleitung genau zu lesen. Denn Neil Gaiman erzählt zu jeder Geschichte etwas zu ihrer Entstehung. Nicht selten staunt man dabei, welche äußeren Umstände dazu beitrugen, eine solche Geschichte zu schreiben.
The flints of memory ist eine Geschichte, die mir im Gedächtnis bleibt. Sie ist auf ihre Art und Weise gruselig, weil sie keinerlei Details preisgibt. Weil sie nicht die Form einer Geschichte hat und somit an der eigenen Realität kratzt. Denn sie erzählt von einem jungen Mann, der eigentlich nicht an Geister glaubt und doch einen zu Gesicht bekommt. Eine alte Zigeunerin, mit einem bösen Lächeln aus Schwarz und Gelb. Auch ohne jegliche Erklärung zu dieser Erscheinung schafft es Gaiman hier, mir einen kleinen Schauer über den Rücken zu jagen, da die Atmosphäre keinerlei Erklärung braucht.
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I like things to be story-shaped.
Reality, however, is not story-shaped, and the eruption of the odd into our lives are not story-shaped either. They do not end in entirely satisfactory ways.
(S.63 | The flints of memory)
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Trigger Warning
Short Fictions and Disturbances
Der dritte und damit jüngste Sammelband (der bis dato leider nicht in deutsch erschienen ist) des Gaiman’schen Fantasiefeuerwerkes ist Trigger Warning. In seiner Einleitung erzählt Neil Gaiman, dass er sich schon immer gefragt hat, wann man eigentlich eine Triggewarnung seinen Geschichten voran stellen wird. Denn Trigger lauern überall auf jene, die besonders sensibel auf manche Themen reagieren. Dabei muss es nicht einmal die reine Brutalität sein. Er erzählt von einer Freundin, die Angst vor allem hat, was mit Fangarmen bestückt ist. Er warnt sie zugleich vor, dass in einer seiner Geschichten ein gigantischer Oktopus auftaucht.
Und wenn man in den Geschichten versinkt, so findet man wirklich wieder einiges, das einem unterschwellig die Haare zu Berge stehen lässt, das noch Wochen oder Monate später beschäftigt. Auch findet man hier eine Episode zu Doctor Who, dem letzten Time Lord. Diese Story treibt mich immer wieder dazu, endlich mit der Serie anzufangen.
Doch die Geschichte, die mir nach wie vor am besten gefällt (und nicht zuletzt, weil sie mich zutiefst verängstigt) ist wohl Feminine Endings.
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My Darling,
let us begin this letter, this prelude to an encounter, formally, as a declaration, in the old-fashioned way: I love you.
(S.22 | Feminine Endings)
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Feminine Endings beginnt als Liebesbrief. Ein Mann schreibt ihn an seine Angebetete. Er beschreibt ihr Lachen, ihren Duft. Er gibt ein Gespräch wieder, dass sie mit einem Studienkollegen geführt hat. Er ist einer von denen, die sich starr und stumm als Statuen verkleiden und darauf warten, sich für andere zu bewegen. Und er steht. Starr und stumm. Und beobachtet sie. Tag ein, tag aus. Sie ahnt nichts, kennt ihn nicht. Doch er kennt sie. Wie ein Schatten folgt er iht, kennt ihre Geheimnisse, ihre Kleidungsstücke, ihr Leben.
Ich möchte nicht zu viel verraten, aber seitdem beäuge ich die dunklen Ecken meiner Wohnung noch einen Augenblick länger, bevor ich zu Bett gehe.
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Das sind sie, die drei großen Anthologien mit den Kurzgeschichten, Gedichten und Filmepisoden aus der Feder von Neil Gaiman. Alle diese Geschichten handeln von den großen und kleinen Wundern und Schrecken des Lebens, lassen uns hinter die dünne Wand der Realität blicken und Unglaubliches erleben. Natürlich mag nicht jeder Kurzgeschichten, doch ich wette, mit diesen Bänden lernt man sie lieben.
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