
Die Sonne ging in einem für diese Jahreszeit ungewöhnlich steilen Winkel unter. Golden wurde der Waldboden überflutet, Blätter schienen Feuer zu fangen im rötlichen Glanz dieses Naturspektakels. Irgendwo kreischten ein paar Orang-Utans und riefen ihre Kleinen nach Hause, winzige Nagetiere warfen erste scheue Blicke aus ihren Löchern, doch der entfernte Schrei einer Maskeneule ließ sie schnell wieder in der dunklen Sicherheit ihrer Behausung verschwinden.
Nur einer bekam von all diesem Trubel nichts mit. Zu einer flauschigen, gräulich-braunen Kugel zusammengerollt, schlief er den Schlaf der Gerechten. Die großen runden Augen noch fest verschlossen, konnte ein aufmerksamer Zuhörer ein leichtes Fiepen vernehmen. Als die letzten Sonnenstrahlen schließlich verloschen, reckte sich erst ein Bein aus der warmen Umarmung des zum Nest zusammengetragenen Moos, dann ein zweites. Scharfe Krallen streckten sich rythmisch und endlich erhob sich ein verschlafen wirkender Kopf. Blinzelnd setzte er sich auf, fuhr sich über das Gesicht und nahm endlich seine Umgebung wahr. Sein Magen knurrte vernehmlich. Seit seine Mutter mit seinen Geschwistern verschwunden war, hatte er sich nicht mehr aus der Baumhöhle gewagt. Er schnupperte in der Luft und versuchte zwischen all den verschiedenen Gerüchen des Waldes etwas vertrautes herauszufiltern. Doch er hatte kein Glück, die Luft war erfüllt mit dem strengen Geruch eines herannahenden Marders. Ein Marder! Augenblicklich war der kleine Kerl putzmunter, schnupperte erregt und fiepte dabei ängstlich. Wenn seine Mutter bei ihm wäre, hätte er keine Angst. Wenn seine Geschwister bei ihm wären, wäre er nicht so allein. Still sein, das war jetzt das wichtigste. Er versuchte seinen eigenen Herzschlag zu verlangsamen, ruhig zu atmen und das Fiepen zu unterdrücken, dass ihn unvermeidlich verraten würde.
Ein Schatten verdunkelte das Loch in die Freiheit. Der Geruch des Jägers wurde allesdurchdringend, und der Herzschlag des kleinen Kerls beschleunigte sich erneut. Er versuchte sich tiefer in das noch immer nach Familie riechende Nest zu wühlen, doch es gelang ihm nicht so recht. Das Loch im Auge behaltend, schien die Zeit still zu stehen. Ein Auge schob sich vor die Öffnung, dann ein weiteres, und dann erschien das spitze Gesicht des gefüchteten Jägers. Die Barthaare zitterten, als dieser genüßlich den Geruch seiner kommenden Mahlzeit einatmete. Schon schossen spitze Krallen herein, denen der Kleine nur noch im letzten Augenblick ausweichen konnte. Nun half nur noch die Flucht nach vorn!
Mit verzweifeltem Quieken warf er sich vor, dem verdutzten Marder entgegen, der ihm überrascht Platz machte. Schnell, schnell, den Baumstamm hinunter! Krallen gruben sich in die weiche Rinde des Baumes, während es in atemberaubendem Tempo hinab ging. Der Marder hatte nur wenige Augenblicke gebraucht, um auf die neue Situation zu reagieren. Eine Jagd, wie herrlich! Geschmeidig legte er die wenigen Meter bis zum dunklen Waldboden zurück. Der Angstgeruch seiner Beute lag aufreizend in der Luft, es wird ein Leichtes ihm zu folgen.
Auf und ab schossen die beiden Schatten, die Bäume entlang, der kleine Kerl vorneweg, der Marder immer hinterher. Die anderen Geräusche des Waldes schienen verstummt zu sein, kein Vogel zwitscherte, kein Affe brüllte. Alles schaute still auf diese Jagd durch die Bäume hindurch.
Weit oben in den Baumwipfeln hielt sich ein Artgenosse des kleinen Kerls auf und beobachtete voll stummen Entsetzens die Szenerie. Verlor er den Unglücklichen aus den Augen, riss er in banger Erwartung die großen Augen auf. Er sah, wie der Kleine langsamer wurde, erschöpft immer öfter kurze Pausen einlegte, bevor er sich weiter in den Baumwipfeln herum hangelte, immer nur weg weg weg von den spitzen Krallen und den scharfen Zähnen des Feindes. Warum springt er nicht einfach, dachte er, unfähig, die Augen abzuwenden. Aufgeregt trippelte er auf seinem eigenen Ast hin und her, den breiten Schwanz aufgestellt, selbst schon kurz davor, aus Angst sein Versteck zu verraten.
Der kleine Kerl jedoch bekam nichts mit, nur die Angst folgte ihm, den Feind unverändert hinter sich, die eigene Erschöpfung greifbar nah. Fieberhaft suchte sein Verstand nach einer Möglichkeit, die er bisher außer Acht gelassen hatte. Immer höher trieb es ihn, die Wipfel der Bäume empor, hinauf, bis ihm das Mondlicht in die Augen schien. Der Marder unter ihm keuchte kaum merklich, bald schon hätte er ihn und dann war es vorbei. Er betrachtete für einen Augenblick seine Umgebung, nahm einen hohen Baum in weiter Ferne wahr. Dazwischen Gestrüpp, Dornen, die Chance auf Rettung. Wenn er doch nur so weit springen könnte!
Unter sich der Marder, vor sich das todbringende Gehölz. Schon war die Schnauze in Sicht, die gelblichen Zähne blitzten im schalen Licht des Mondes. Was tun? Jetzt half alles Überlegen nichts mehr, er sprang –
Instinktiv breitete er seine Vorder- und Hinterläufe aus, die Luft blähte die Haut, die sonst so unnütz herunterhing. Den Schwanz aufgestellt, richtete er voller Zuversicht seine Richtung aus, immer auf den rettenden Baum zu. Innerlich jubilierte er: Er konnte tatsächlich fliegen!


Der Writing Friday ist eine Aktion von readbooksandfallinlove! Jeden Monat gibt es neue Schreibaufgaben, denen man sich widmen kann. Dieses Mal habe ich habe ich mich an einer Geschichte versucht, die mit dem Satz Er konnte tatsächlich fliegen! endet.
Natürlich können Gleithörnchen nicht richtig fliegen, sie gleiten – aber bei der enormen Weite von 50 bis 450m kommt es einem so kleinen Tier mit Sicherheit vor, als würde es fliegen können! 🙂
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