Wir alle kennen bestimmt das Gefühl, dass sich in unserem Körper breit macht, wenn wir nach Hause kommen, ganz egal, wo das ist. Der vertraute Geruch, der uns entgegen kommt, sobald wir diesen Ort betreten und den wir tief einatmen, wirken lassen. Der uns innerlich die Anspannung nimmt.
Wir kennen jeden Winkel, jede Schadstelle, jede Stolperfalle. Wir wissen, wo der Teppich Falten schlägt, welche Diele knarzt und welche Tür quietscht.
Ich komme gern nach Hause. Die Tür öffnet sich und die Erinnerungen, gute wie weniger gute fallen über mich her. Alles ist vertraut, macht mir keine Angst, lässt mich durchatmen.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Das bedeutet, dass er sich erst dann so richtig wohl fühlt, wenn er Routine bekommt. Nicht immer und nicht in allen Lebenslagen, doch tut Routine dem Geist gut. Es befreit, es hilft dabei, die Gedanken zu ordnen und einen Gang runterzufahren.
Auch beim Lesen brauche ich sie hin und wieder, die Routine, das Abschalten, das Runterkommen. Und genau darum greife ich immer wieder zu den gleichen Büchern. So viel Auswahl an Büchern wie in meinem Regal steht, sollte ich für die nächsten Monate bestens mit immer neuen Geschichten ausgerüstet sein und doch rufen manche Bücher schon wieder nach mir, die ich doch schon so oft gelesen habe.
Alice zum Beispiel winkt mir jedes Jahr im Spätsommer zu. Da steht sie im Bücherregal herum und wedelt mit ihren dürren Ärmchen, deutet auf eine imaginäre Uhr ihr ihrer Rocktasche und bedeutet mir, dass es mal wieder allerhöchste Zeit für einen Besuch im Wunderland ist. Gerne folge ich ihrem Ruf, sind die Grinsekatze, der Märzhase und der Hutmacher doch gute Freunde von mir. Einmal angekommen, begrüßen mich alle alten Bekannten, fragen mich nach meinem Befinden und feiern zusammen mit mir meinen Nicht-Geburtstag. Dieser Besuch erfrischt mich jedes Mal ungemein und sobald die letzte Seite gelesen ist, werde ich fast ein wenig wehmütig und freue mich schon auf meinen nächsten Besuch.
Doch es gibt noch andere Bücher, Geschichten und Gestalten, die sich in regelmäßigen Abständen bei mir melden, anklopfen und Einlass in mein Herz wünschen. Ursula aus Die Unvollendete von Kate Atkinson ist da ein sehr gutes Beispiel. Ihre Geschichte fasziniert mich seit einigen Jahren. Denn Ursula lebt immer wieder ihr Leben von Neuem, unwissentlich, doch mit dem Gefühl des Deja-Vu bestens vertraut. Die Frage nach einem Leben ohne Fehler stellt sich mir immer aufs Neue, auch wenn ich den Ausgang bereits kenne und schon unzählige Leben an Ursulas Seite gelebt habe.
Jane Austen ist eine weitere Kandidatin des nach Hause kommens. Ich liebe all ihre Werke und ich durchlebe mit ihren Protagonisten immer wieder gern die Monate der heimlichen Liebe, der großen Bälle, der verworrenen Liebeswege. Erwähnt man nur den Namen Elisabeth Bennet, bekomme ich glänzende Augen und möchte am liebsten sofort ins beschauliche England des 19. Jahrhunderts reisen. Auch die Schwestern Marianne und Elinor aus Verstand und Gefühl wollen immer mal wieder besucht werden. Dann sitzen wir alle zusammen auf der heimischen Terrasse und ich lasse mir die neueste Mode erklären und den neueste Klatsch erzählen. Wer macht wem den Hof? Wer hat sich total daneben benommen? Hach, wie gut die ländliche Luft doch tut. Einfach mal die Seele baumeln lassen, nichts analysieren, nicht nachdenken. Den Gedanken ihren Lauf lassen.

Und natürlich muss mein absoluter Lieblingsautor Neil Gaiman immer wieder herhalten, teilweise sind die Bücher schon so abgegriffen, dass sie vermutlich auch als Jahrhunderte alte Ausgaben gelten könnten. Doch jedes Mal aufs Neue kann ich mich in seinen Geschichten und in seiner Fantasie verlieren. Unzählige Male war ich mit Coraline bei der anderen Mutter und habe die Seelen der Kinder gesucht.
Von vielen Bücherwürmern weiß ich, dass sie beinahe jährlich das Gefühl haben, nach Hogwarts zurück kehren zu wollen. Auch hier ist es immer wieder ein nach Hause kommen, zurück auf die Schulbank, zurück in die Zaubererwelt. Auf mich wird Harry Potter wohl noch ein wenig warten müssen, bis er mich wieder sieht, jedoch ruft seit einigen Monaten etwas anderes ganz beharrlich nach mir.
Der Blick ins Bücherregal wird immer mächtiger in eine bestimmte Richtung gelenkt, gezogen, beinahe gewaltsam darauf aufmerksam gemacht. Die Bücher ringsherum verblassen, nur der metallen schimmernde Einband scheint zu pulsieren. Ich strecke meine Hände aus, zucke zurück. Eine leise Stimme ruft mich zu sich. ICH ERWARTE DICH IM OBERSTEN TURMGESCHOSS. Sie dröhnt durch meinen Kopf, lässt die Härchen auf meinen Armen elektrisch geladen aufstehen. Noch halte ich mich wacker, flüsterte leise Warte noch ein wenig, bald kehre ich zu dir zurück, noch bin ich nicht bereit. Es ist, als hätte die Obsession der Protagonisten auf mich übergegriffen, als wäre sie seit Jahren teil meines Selbst. Mir wird kurz schwummrig, die Sicht verschwimmt und ich muss die Augen schließen. Als ich sie wieder öffne, sehe ich ein weites Feld vor mir, ein Meer aus roten Rosen. Und von weitem sehe ich ihn, dunkel und bedrohlich, über allem wachend, alles zusammenhaltend. Was mich wohl ganz oben im Turm erwarten wird? Vielleicht endlich der Scharlachrote König.
Denn ich bin Roland Deschain von Gilead, der letzte meines Geschlechts, Sohn des Steven, Nachfahre des Eld. Das Ka dreht sich und ich mich mit ihm, bis ich ihn wieder erreiche: Den Dunklen Turm.

Habt ihr auch bestimmte Bücher, zu denen ihr immer wieder zurückkehren wollt und vielleicht sogar müsst? Die euch rufen und an euch zerren, bis ihr nachgebt, die Seiten aufschlagt und schließlich … heimkehrt?
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