
Im Sommer ist es wesentlich erträglicher als im Winter. Im Sommer ist es sogar befreiend, immer an der frischen Luft zu sein. Warum sollte man in einer Wohnung hocken, in einem Raum, der nur ein kleines Fenster in die Freiheit hat? Da sitze ich lieber bereits bei Sonnenaufgang in meinem Park und beobachte die Menschen, die so früh am Morgen ihrem Alltagsstress nachrennen. Alltagsstress. Schon das Wort verursacht mir Kopfschmerzen. Meine Gedanken bleiben bei diesem Wort hängen, ich drehe es in meinem Mund hin und her. Alltagsstress.
Zum Glück liegt das hinter mir. Das denke ich mir die Hälfte des Jahres. Zum Glück muss ich nicht mehr tagaus, tagein in ein Büro gehen, muss meinen Kopf nicht mit sinnlosen Gedanken vollstopfen, bis sie zu beiden Ohren wieder hinaus quellen. Da, die Frau in dem eleganten Kostüm, die gerade an mir vorbei geht, der sieht man ihren Alltagsstress an. Verkniffene Mundwinkel, Schatten unter den Augen. Die Hand krampfhaft um den Coffee-to-go-Becher gewunden.
Ich lächle sie an, doch sie scheint durch mich hindurch zu sehen. Vermutlich hält sie mich für einen Verrückten. Viele tun das. Warum eigentlich? Nur weil ich bereits zum Sonnenaufgang auf meiner Bank im Park sitze und lächle?
Gleich kommt der junge Kerl um die Ecke, da verwette ich meinen linken Turnschuh drauf. Obwohl lieber nicht. Schuhe sind ein wichtiges Gut, wenn man auf der Straße lebt. Ja, da kommt er schon. Pünktlich wie immer. Hey, die Jacke ist neu, die kenne ich noch gar nicht an ihm! Aber seine kläffige Töle hat er wieder dabei. Jeden Tag gehen sie diesen Weg entlang, der Hund muss doch mittlerweile den ganzen Park markiert haben. Manchmal, wenn er einen guten Tag hat, dann wirft er mir ein paar Cents zu. Der Kerl, nicht der Hund. Das ist furchtbar nett von ihm, da kann ich mir manchmal sogar einen Kaffee leisten. Natürlich nicht den Schickimicki-Kaffee, den die Frau im Kostüm trinkt, aber immerhin Kaffee.
Nachmittags ist es sehr voll hier in meinem Park. Da muss man aufpassen, dass man nicht von seiner eigenen Bank vertrieben wird. Vorhin kamen zwei ältere Damen, zwei Kugeln Eis pro Becher. Die Haare der einen schimmerten in einem hellem Blauton. Ich hätte ihr ja davon abgeraten, aber meine Meinung interessiert hier eh niemanden mehr. Es vergehen manchmal Tage, bevor ich mit einem anderen Menschen rede. Tage! Früher war das undenkbar. Da begann mein Tag mit einer Telefonkonferenz. Mitunter musste ich mit zehn Menschen gleichzeitig reden, deutsch, englisch, spanisch, russisch. Klingonisch, wenn sich mein jüngerer Bruder spontan dazu schaltete. Ja, wenn die Leute mich heute sehen, hier auf meiner Parkbank, würden mir das viele nicht glauben. Man sieht es mir nicht mehr an, dass ich früher erfolgreich war. Man sieht es mir nicht an, dass ich einmal in einer großen geräumigen Wohnung lebte, verheiratet war. All das liegt schon viele Jahre zurück.
Hier in meinem Park sehe ich endlich wieder den Wechsel der Jahreszeiten. Ich sehe die Knospen, die den Frühling ankündigen. Ich sehe die Blüten der Blumen, die den ganzen Sommer über auf den grünen Rasenflächen wachsen, bis sie von einem übermotiviert wirkenden Gärtner gemäht werden. Ich sehe das erste Rot in den Bäumen, wenn die Tage kürzer werden. Und ich sehe die Menschen, die sich langsam verhüllen, wenn der Winter vor der Tür steht.
Winter. Wenn es kalt wird, wünsche ich mir manchmal mein altes Leben zurück. Eine warme Wohnung, eine heiße Suppe. Meine Frau, mit der ich unter einer warmen Decke liegen konnte. Doch das ist vorbei. Mein Leben ist jetzt hier, in diesem Park. Wenn es kalt wird, werden die Herzen der Menschen weiter. Dann wirft mir nicht nur der Kerl mit der Töle ein paar Münzen zu. Letzten Winter kam sogar eine junge Frau zu mir und reichte mir eine Decke. Diese Decke hüte ich wie einen Schatz. Denn wenn es kalt wird, werde ich sie brauchen.
Kurz bin ich eingenickt, es ist schon spät. Die Sonne geht bereits unter, da sehe ich von weitem eine Frau auf mich zukommen. Sie ist gut gekleidet, lässig, aber nicht nachlässig. Sie schwingt eine braune Ledertasche über dem Handgelenk, telefoniert. Das Haar, rotes Herbstlaub im letzten Tageslicht. Ein Kribbeln durchfährt mich und ich muss den Blick abwenden. Den Kopf gesenkt, starre ich auf meine dreckigen Füße, auf die eingerissenen Fußnägel. Ich wage es kaum zu atmen. Mein Körper ist stocksteif, aber ich muss sie noch einmal sehen, vielleicht irre ich mich ja. Vielleicht …
Jetzt ist sie vorbeigegangen, hat mich keines Blickes gewürdigt. Hat sie mich erkannt? Wohl kaum. Das hätte ich auch nicht gewollt. Ich will nicht, dass sie mich so sieht. Ich mag mein neues Leben, aber sie soll mich nicht so sehen.
Sie, die mein altes Leben war.

Der Writing Friday ist eine neue Aktion von readbooksandfallinlove! Jeden Monat gibt es neue Schreibaufgaben, denen man sich widmen kann. Heute lautete die Aufgabe: Beschreibe die Sicht eines Obdachlosen auf die Menschen.
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