[Rezension] Steve Sem-Sandberg – Die Erwählten

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Erscheinungsdatum Erstausgabe:21.08.2017

Verlag : Goldmann

ISBN: 9783442481330

Genre: Roman / Dokumentation

Flexibler Einband 528 Seiten

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Alles Leben, das Gott erschaffen hat, ist ein Wunder. So hätte sie auch die Kinder sehen wollen. Doch das war nicht möglich. In den Augen derer, die die Abteilungen leiteten, waren es nicht einmal Kinder, die hier lagen, nur Spezimen, lebende Beispiele für physiologische oder neurologische Defekte oder für Krankheitsverläufe, deren Fortschreiten ein gründliches Studium lohnte. (S.150)

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Inhalt

Adrian Ziegler wird an einem Januarmorgen 1941 in die Klinik Spiegelgrund gebracht. Schon vorher wurde er immer wieder von seiner Familie getrennt, eine Familie die laut vorherrschender Meinung erbbiologisch minderwertigen Nachwuchs zeugt. Hier beginnt eine Tortur für den Elfjährigen, die er sein Leben lang mit sich herumtragen wird. Denn die auf Schwerbehinderte und schwer erziehbare Kinder spezialisierte Klinik ist nur zu einem Zweck da: Der systematischen Reinigung der menschlichen Rasse.

Rezension

Es ist ein dunkles, totgeschwiegenes Kapitel Menschheit, dem sich dieser Roman widmet. Von Konzentrationslagern, in denen tausende Menschen ihr Leben ließen, weiß heute jeder. Doch wie vielen Kindern wurde schon in jungen Jahren alle Chancen auf Leben genommen, in Kliniken wie der am Spiegelgrund in Wien? Allein hier fanden mindestens 789 Kinder einen gewaltsamen Tod.

Hilfe für die Hilfsbedürftigen?

Von ihren Familien getrennt, weil sie aus ärmlichen Verhältnissen kamen, weil sie nicht so schnell lernten wie andere, weil sie körperlich nicht einwandfrei funktionierten, kamen nur die wenigsten von ihnen jemals wieder hinaus. So wie der junge Adrian Ziegler, an dessen Beispiel der Roman seine Geschichte erzählt. Unter ärztlicher Aufsicht wurden die Krankheitsbilder der Kinder eingehend studiert, sie wurden beim Betreten der Klinik vermessen, gewogen und fotografiert. Anschließend wurde ihre Akte an eine Fachabteilung in Berlin geschickt. Wenn dieses Stück Papier zurückkam, war bereits über Leben und Tod des Kindes entschieden. Befand Berlin, dass man den Kindern eine „Behandlung“ zukommen lassen sollte, so wurden sie zu Testzwecken mit Tuberkulose-Viren infiziert, bekamen überdosierte Schlafmittel und wurden der Tortur einer Pneumoenzephalografie unterworfen. Meist trat der Tod nur wenige Stunden bis Tage später ein. Den Hinterbliebenen wurde dann mitgeteilt, dass das Kind leider plötzlich verstorben sei, meist wurde eine Lungenentzündung vorgeschoben.

Auch Adrian Ziegler erlebt, wie die Kinder in der Klinik systematisch drangsaliert, gefoltert und vorgeführt werden. Wie die Bettnässer in Laken gewickelt werden, in eine mit Wasser gefüllte Wanne getaucht werden, bis sie fast ertrinken, wie sie danach stundenlang auf dem Gang stehen müssen, bis die um sie gewickelten Laken getrocknet sind. Und so etwas verstanden selbst die Krankenschwestern vor Ort unter Behandlung, Hilfe für die Hilfebedürftigen. Wie tief muss der Glaube der Reinhaltung der menschlichen Rasse in einem Kopf verankert sein, um solche Grausamkeiten vor sich selbst zu rechtfertigen? Von oberster Stelle hieß es, die Zukunft müsse für die Gesunden und Starken vorbereitet werden, Kranke und Behinderte wären ein Klotz am Bein.

Keine Fiktion, sondern Wahrheit

Die Namen der diensthabenden Ärzte und Schwestern wurden originalgetreu belassen. Auch widmen sich mehrere Kapitel der Krankenschwester Anna Katschenka und ihrer Obsession gegenüber dem Klinikleiter Erwin Jekelius. Im Schlusswort bedankt sich der Autor bei Friedrich Zawrel, durch dessen Aussagen weite Teile des Romans zustande kamen. Denn Zawrel ist einer der Wenigen, die Spiegelgrund lebend verlassen konnten.

Die Lektüre war streckenweise etwas anstrengend. Nicht nur, weil die Thematik so unfassbar ist, sondern auch weil das Format der Kapitel sehr viel Aufmerksamkeit erfordert. Kaum Absätze, noch weniger wörtliche Rede, Blocksatz wohin das Auge reicht. Trostlos möchte man sagen. Genau wie die Geschichte des Buches. Man erlebt so viel Schlimmes mit den Kindern und hofft auf ein baldiges Ende, sieht, dass man das Jahr 1944 bereits erreicht hat. Dann schlägt man das nächste Kapitel auf und ist wieder im Jahr 1941 gefangen. Es ist eine Todesspirale, aus der man nicht mehr herausfindet, genervt, entmutigt, verlassen. Genauso muss es den Kindern ergangen sein, die Tag aus Tag ein der Willkür des „Pflegepersonals“ ausgeliefert waren.

Doch trotz aller schrecklichen Ereignisse bleibt man zumeist nur Zuschauer. Kinderschicksale geben sich die Hand, doch bleibt man als Leser außen vor. Namen vergehen, Einzelschicksale werden zu denen aller. Man ist streckenweise emotionslos, weil der Stil des Romans eher einer Dokumentation gleicht.

Passagen, die aus Adrians Sicht teilweise geschildert werden, erhalten etwas surreales, manchmal kaum nachvollziehbares. Natürlich nicht, er ist nur ein Kind. Er weiß selbst nicht, was hier eigentlich wirklich passiert, warum sie den „Erwählten“ ein Bonbon in den Mund stecken und warum diese dann wenig später nicht mehr da sind. Mehrfach versucht er zu fliehen, immer wird er eingefangen und noch schlimmer bestraft. Erst als die russische Armee ins Land eindringt, fällt Spiegelgrund und mit ihm einige der barbarischsten Jahre der Geschichte.

Fazit

Es fällt schwer, dieses Buch zu bewerten. Es ist ein wichtiges Buch, aber es ist auch nicht für Jedermann geschaffen. Streckenweise habe ich mich etwas schwergetan, war versucht, Seiten vorzublättern und dem Geschehen und dem Gedankengängen der Menschen zu entkommen. Doch es gibt kein Entkommen, wie es auch kein Entkommen für 789 Kinder gab.

Bewertung im Detail

Sprache ★★★★☆ ( 4 / 5 )

Emotionen ★★★★☆ ( 4 / 5 )

= 4 ★★★★

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Adrian wurde auf den Spiegelgrund geschickt, wo man kurz zuvor einerseits eine Spezialklinik für Kinder mit schweren psychischen oder neurologischen Störungen, andererseits eine Erziehungsanstalt für schwererziehbare Jungen und Mädchen eingerichtet hatte. Der Spiegelgrund war die letzte Station, die unterste Stufe der Treppe, wo nur die Verworfensten landeten. (S.44)

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12 Comments on “[Rezension] Steve Sem-Sandberg – Die Erwählten

  1. Das Buch steht auch noch auf meiner Liste aber bisher hab ich es immer wieder zurückgelegt auf den Stapel. Ich glaube, ich werde noch eine Weile warten, bis ich es lese. Solche Bücher gehen mireinfach immer zu nah.

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    • Völlig verständlich. Allerdings muss ich sagen, dass es der Autor durchaus schafft, das Grauen soweit in Schach zu Halten, dass man es ertragen kann. Es wird nicht alles bis ins letzte Detail erklärt, das muss es auch nicht.

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  2. Wird das next thing auf der Liste. Hört sich genau nach meinem Ding an, Historikerbuch :). Vielen Dank für den Hinweis, das war mir bislang total entgangen.

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    • Ist auch – zumindest auf deutsch – erst am 04. September erschienen 🙂 Bitte gern, ich würd dir ja „viel Spaß“ wünschen, aber aufgrund der Thematik, belass ich es lieber bei einem „Hau Ruck!“ 😉

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      • Bin da extrem hartgesotten, ich hab an sowas auch Spaß. Ich lese auch viele Holocaustfachbücher usf. Historikerkrankheit 😉

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  3. Hallo ❤
    Eine wundervolle Rezension, finde es grossartig liest du solche Bücher. Mir gehen diese immer unter die Haut und ich muss dafür in der richtigen Stimmung sein. Vor allem beschäftigen diese Bücher mich noch lange nach dem lesen…

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    • Huhu! ♥
      Lieben Dank! 🙂 Das stimmt auf jeden Fall, die Stimmung muss passen, es ist eben auch keine leichte Lektüre zum Teekränzchen. Ich musste zwischendrin auch immermal wieder pausieren, einfach weil man es nicht dauerhaft erträgt. Das mag ich auch nicht jedes Mal haben :/

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  4. Ich habe Gänsehaut beim Lesen deiner Rezi bekommen… Ich halte dieses Buch für ein sehr wichtiges Buch, aber ich glaube nicht, dass ich dafür gemacht bin, daher werde ich es wahrscheinlich nicht lesen. Puh.

    Liebe Grüße
    Miri

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