[Auf Spurensuche] Die wahre Alice

Meine Lieben!

Was wäre eine Alice-im-Wunderland Themenwoche, wenn ich euch die Frau vorenthielte, die maßgeblich daran beteiligt war, dass es das Buch, über das ich die ganze Woche über geschrieben habe, auch tatsächlich gibt? Richtig, sie wäre unvollständig. Lasst sie mich euch nun also gebührend vorstellen. Gestatten: Alice Pleasance Liddell.

Am 4. Mai 1852 erblickt in London ein kleines Mädchen das Licht der Welt. Sie ist das vierte Kind der Familie Liddell, ihr vorangegangen sind bereits drei Jungen und ihre älteste Schwester Lorina. Als der Vater, Henry George Liddell, zum Dekan des Christ Church in Oxford ernannt wird, zieht die Familie 1856 auf den Campus der Universität um. Hier lernen sie und ihre mittlerweile 2 Schwestern – denn die Familie wächst beständig – den Mathematikprofessor Charles Lutwidge Dodgson kennen.

Alice als Bettlermädchen | 1858

Bald entspinnt sich zwischen Lorina, Alice und Edith, der jüngsten der drei kleinen Oxfordprinzessinnen, und ihm eine innige Freundschaft. War zuerst Lorina noch die Bevorzugte, ändert dies sich mit dem zunehmenden Alter Alice‘ beträchtlich. Denn während Lorina ganz die feine junge Dame herauskehrt, ist Alice vor allem eines: ein ungestümes, lebendiges Kind. Auf zahllosen Ausflügen gewinnt sie zusehends das Herz des ansonsten recht zurückgezogen lebenden Dodgson. Dieser lebt neben seiner Professur hauptsächlich für Geschichten und die gerade aufgekommene Fotografie. Immer wieder ersinnt er neue Möglichkeiten, die jungen Mädchen zu besuchen und sie in verschiedensten Posen und Verkleidungen abzulichten.

Ein ganz besonderes Foto der siebenjährigen Alice zeigt sie in einem zerrissenen Bettlerkleid. Die Hand ist fordernd ausgestreckt, der Blick ist kühn und für eine Siebenjährige geradezu herausfordernd. Und vermutlich ist es dieses Bild, das Dodgson sein Leben lang in Alice sieht.

Melanie Benjamin – Alice und Ich

Man kann viel über das Leben der Alice Liddell recherchieren. Man kann sich aber auch einfangen lassen in einem der – für mich – wohl bezauberndsten Bücher aller Zeiten. Melanie Benjamin hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Spuren des weißen Kaninchens in die Vergangenheit zu folgen. Alice und Ich, das ist eine Wirklichkeit, wie sie vielleicht tatsächlich geschehen ist. Doch schauen wir einmal weiter, wie es Alice Liddell ergangen ist.

Alice Liddell, 18 Jahre alt
Alice Liddell, 82 Jahre alt

Melanie Benjamin schildert das Wachsen und Gedeihen der drei Schwestern. Sie lässt uns teilhaben an den Streitereien zwischen Lorina und Alice, bei denen die ältere zumeist eifersüchtig auf Alice‘ tiefe Freundschaft zu Dodgson ist. Sie speichert jedes noch so kleine Detail ab, jede Handbewegung, jeden Blick.

Am 4. Juli 1862, Alice ist mittlerweile zehn Jahre alt, unternehmen Dodgson und sein Freund Mr Duckworth zusammen mit den drei Schwestern eine Bootstour auf der Themse. Die Sonne scheint, die Gedanken sind frei. Da drängen die Kinder ihren Freund dazu, eine weitere Geschichte zu erzählen. Und das tut er. Zur größten Freude von Alice ist es ihr Name, der die kuriose Geschichte voll schrulliger Figuren und Rätseleien, dominiert. Sie bittet Dodgson inständig, sie niederzuschreiben. Ein Mittel, um die unbeschwerten Sommertage der Kindheit einzufangen. Doch so schnell geht das Schreiben nicht vonstatten, und wenn das Buch fertiggestellt sein wird, soll die Beziehung des zwanzig Jahre älteren Mathematikprofessors zu dem ungestümen Mädchen bereits ein bitteres Ende gefunden haben.

„Ich habe von d…d…dir geträumt, Alice“, sagte er, während er mit herabhängenden Armen linkisch neben der Kamera stand, das weiße Hemd zerknittert und das Gesicht durch eine merkwürdige Gefühlsaufwallung rot angelaufen. „Genau so, wie du jetzt vor mir stehst. Träumst du auch, Alice?“

Unsicher schaute ich ihn an. Was erwartete er von mir? Sollte ich mich bewegen und ihm antworten? Das würde das Bild ruinieren. Doch er sah so seltsam verloren aus, als hätte er die Kamera neben sich ganz vergessen.

(Melanie Benjamin – Alice und Ich | S. 71)

Hier nun gibt es verschiedene Wege, wie die Realität verlaufen sein könnte. Die später veröffentlichten Tagebücher Dodgsons weisen einige Unregelmäßigkeiten auf. Besonders eine herausgerissene Seite vom Juni 1863 zieht allerlei Spekulationen nach sich. Melanie Benjamin entschied sich in ihrem Roman für die Behauptung, dass die Beziehung zwischen Alice und Dodgson zu tief wurde um noch länger als schicklich zu gelten. Dabei fehlen Alice bis ins hohe Alter hinein selbst die Erinnerungen an jenen unheilvollen Tag, der ein abruptes Ende dieser Freundschaft bedeutete.

Doch mit dem Ende dieser schicksalhaften Beziehung ist längst nicht wieder alles ins Reine gebracht. Denn als Alice älter wird, lernt sie den jüngsten Königsspross kennen, den etwas schmächtig-kränklichen Prinz Leopold. Diese Beziehung ist, man kann es nachlesen, nicht von langer Dauer geprägt. Etwas muss geschehen sein, dass diese aufkeimende Liebe zwischen den beiden jungen Menschen in einen Scherbenhaufen verwandelt. Auch hier gibt es einige Spekulationen, Fakt ist aber dennoch, dass Alice später ihren zweiten Sohn Leopold Reginald nannte, und der Prinz seiner ersten Tochter den Namen Alice gab. Melanie Benjamin baut dieses kurze Hochgefühl so gekonnt aus, dass es mir selbst immer wieder das Herz in zwei Stücke reißt, wenn das unvermeindliche Ende naht.

In diesem Augenblick brach mir das Herz entzwei. Ich gab eine Hälfte Leo und die andere meiner Schwester, verabschiedete mich von ihnen beiden und wusste, dass ich niemals wieder unversehrt sein würde.

(Melanie Benjamin – Alice und Ich | S.262)

Mit 28, bald schon als Blaustrumpf verschrien, heiratet Alice schließlich Reginald Gervis Hargreaves und bekommt mit ihm drei Söhne. Noch immer treffen die neuesten Alice im Wunderland Ausgaben bei ihr ein, doch es sollen noch viele Jahre vergehen, bis sie endlich selbst wieder einen Blick in ihre Geschichte wirft. Die Geschichte, die sie für alle Zeiten als Siebenjährige portraitiert und festgehalten hat.

Charles Lutwidge Dodgson | Selbstportrait 1863

Alice und Ich, mag es so gewesen sein oder gänzlich anders, ist ein Buch, das mir immer wieder ganz tief unter die Haut geht. Denn vieles, was die Autorin uns schildert, ist durchaus faktisch belegt. Anderes widerrum lässt Raum für Spielereien. Doch dass Charles Lutwidge Dodgson in die junge Alice vernarrt gewesen sein muss, das scheint unleugbar. Er bezeichnete sie sein Leben lang als sein Dreamchild, suchte nach ihr in unzähligen anderen kleinen Mädchen, nach dem ungestümen Wesen, das ihn einst auf so vielen Fotografien entgegenblickte, das trotzige Kinn stolz erhoben. Auch wenn seine Bilder mitunter äußerst befremdlich wirken, immerhin ist eine beträchtliche Anzahl der Mädchen halb oder ganz nackt abgelichtet, so wurden doch nie Stimmen laut, dass er etwas anderes tat, als sie zu fotografieren.

Ich hoffe, ich konnte euch einen kleinen Einblick in das Leben der Frau geben, die Charles Lutwidge Dodgson, alias Lewis Carroll, einst an einem sonnigen Nachmittag auf der Themse den nötigen Anstoß gab, der Welt eines der skurrilsten, kuriosesten und gleichzeitig fantasievollsten Bücher zu schenken. Ein Buch, das man immer wieder aufschlagen kann, neues entdeckt, und über altes schmunzelt.

Genau wie Alice und Ich. Ein Buch, das auf so wundervolle Weise einem Leben auf der Spur ist, das sich in so wenigen erhaltenen Briefen und Tagebüchern wiederfinden lässt und das uns fühlen lässt, was Alice Liddell einst gefühlt haben könnte.


Das war sie, meine Themenwoche rund um Alice im Wunderland! Ich hoffe, ihr hattet genauso viel Freude daran wie ich und seht das Buch nun in noch mehr Facetten, als vielleicht zuvor.

Alle Beiträge noch einmal auf einen Blick:

[The Story behind] Ab durch den Kaninchenbau
[Dunkles Wunderland] Christina Henry – Die Chroniken von Alice
[Spielbuch-Empfehlung] Alice in Düsterland
[Comic-Tipp] Iorie Tabase – Surviving Wonderland
[Auf Spurensuche] Die wahre Alice

*Quelle aller Fotografien: Wikipedia

23 Comments on “[Auf Spurensuche] Die wahre Alice

  1. Wow, ich habe vorher rein gar nichts über die wahre Alice Lidell gewusst!
    Ich bin aber auch etwas entsetzt über diesen Fotografen. Es wirkt irgendwie … naja … wie du schon sagst, verstörend. Ich habe direkt an Pädophilie gedacht. Auch, weil Alice sich bis ins hohe Alter nicht erinnert. Das klingt nach posttraumatischer Amnesie. Da bekommt „Alice Madness Returns“ nochmal eine ganz andere Gewichtung für mich.

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    • Na jaaaa. Also Alice und ihre Schwestern hat er nie unbekleidet abgelichtet, das kam erst nach dem Bruch mit der Familie Liddell. Alice erinnert sich in dem Buch nicht an das Ereignis, was zum Bruch führte, in der Realität äußerte sich dahingehend weder die Familie Liddell noch die Familie Dodgsons. Man weiss nur, dass in seinen Tagebüchern Seiten fehlen, die später von seiner Familie rekonstruiert wurden (inwiefern die allerdings stimmen…) und das die Briefe, die Alice bis dahin von Dodgson bekam, von ihrer Mutter verbrannt wurden. Lässt eben viel Raum für Spekulationen.

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  2. Liebe Gabriela,
    vielen Dank für diesen wieder sehr interessanten Einblick! Auch, wenn man wirklich nicht von der Hand weisen kann, dass das alles irgendwie seltsam wirkt. Aber um ehrlich zu sein, finde ich solche Ungereimtheiten und mysteriösen Vorgänge sehr spannend! Bei der Gelegenheit habe ich nochmal gegooglet und es ist schon krass, was da teilweise alles aus dieser realen Geschichte interpretiert wurde. Da habe ich z. B. gelesen, dass wohl der 25. April, also der Tag der erstmaligen Begegnung von Alice und Dodgson, als „Alice Day“ von Teilen der Pädophilenbewegung begangen wird – da weiß ich wirklich nicht, was ich davon halten soll…

    Liebe Grüße
    Alina

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  3. Ich fand das Buch auch sehr faszinierend. Was vorgefallen ist, ist schwer zu mutmaßen, aber ich denke immer positiv und sage, dass es etwas Harmloses war. Vielleicht ein einfacher Streit der ausartete. Auf jeden Fall hast du es schön zusammengefasst. 🙂

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    • Ich mag deine Einstellung! Es kann so vieles sein, aber ich denke auch nicht, dass es etwas völlig schlimmes war, denn sonst hätte der Dekan Dodgson sicherlich nicht weiter am College bleiben lassen all die Jahre…

      Danke dir 💕

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  4. Danke für diesen bezaubernden Ausflug, liebste Gabriela! ❤
    Immer, wenn ich die Alice-Bücher in der Hand habe, kommt wirklich auch die Frage auf, was das für eine kuriose Beziehung zwischen dem Autor und der inspirierenden jungen Alice war. Ich glaube, man möchte als Leser einfach an die Unschuld einer solchen Freundschaft glauben, aber die verschiedenen Belege deuten zuweilen in eine ganz andere Richtung. :-O
    Nichts desto trotz ist die kleine Alice in Carrolls bzw. Dodgsons Werk einfach eine prächtige kleine Protagonistin, mit der man immer wieder gern ins Wunderland aufbricht. ❤

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    • Aber sehr gerne doch 😀
      Das ist wahr, ich möchte die beiden auch eher als kindliches Gespann sehen, ähnlich der Beziehung James M. Barries zu seinen Verlorenen Jungs. Das Buch wäre vermutlich auch etwas für dich, könnt ich mir vorstellen. Wenn ich schon immer wieder in Tränen ausbreche, dann wird es bei dir vermutlich auch kein Halten mehr geben ❤

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  5. Wirklich ein toller Beitrag!
    Das Buch Alice und ich klingt wirklich interessant, vielleicht werde ich das auch noch lesen. Aber nachdem ich die Biographie von Carroll gelesen habe, habe ich vorerst genug von Geschichten und Büchern über oder mit ihm.
    Liebe Grüße
    Diana

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    • Danke danke! ♥
      Ich kann es dir nur allerallerwärmstens empfehlen und wirklich ans Herz legen, es ist einfach wunderschön. Zumal du hier nicht Dodgson im Mittelpunkt hast, sondern eben Alice – und alles aus ihrem Leben, was nur entfernt mit dieser Bekanntschaft zutun hat. 🙂

      Alles Liebe!
      Gabriela

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  6. Ahoi Gabriela,

    hmmm das ist ja interessant und irgendwie auch schon irgendwie befremdlich… Mit heutigen Augen betrachtet, könnte man fast meinen, der gute Herr hätte der kleinen Alice was angetan… aber vielleicht ist das auch nur zu viel Interpretation. Spannend auf jeden Fall auch die unglückliche Liebe zwischen ihr & Leo; ich meine, dass beide ihre Kinder nach dem anderen benennen…

    Danke für Buchtipp & Bericht!

    Liebe Grüße
    Ronja von oceanloveR

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    • Huhu Ronja!
      Ja da bin ich mir auch nicht sicher, ob man da nicht am Ende zu viel hineininterpretiert. Ich bin mir eigentlich fast sicher, dass eine so angesehene Familie wie die Familie Liddelll das sicherlich nicht so unter dem Deckel der Verschwiegenheit lassen würde. Zumindest würde man doch den Professor Dodgson der Universität verweisen, oder?

      Genau, das mit den Namen empfand ich auch als ziemlich ausschlaggebendes Argument. Bleibt nur die Frage, warum es am Ende zerbrach.

      Liebe Grüße!
      Gabriela

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      • Fragen über Fragen… hoffen wir mal für die gute Alice, dass ihr weder mit dem Professor noch ihrer unglücklichen Liebe schlimmes widerfahren ist ^^

        LG Ronja

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  7. Sehr spannende Reise durch die Geschichte der wahren Alice und dem Weg bis hin zum Wunderland. Ich habe deine Beitragsreihe sehr gern gelesen.
    Lücken fördern ja die Fantasie – leider. Seitdem ich vor Jahren „Alice im Wunderland“ und „hinter den Spiegeln“ gelesen habe und von der Geschichte um den Autor und die echte Alice erfuhr, kann ich einen seltsamen Beiklang nicht so recht abschütteln. Auch schwierig darüber zu schreiben, oder??

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    • Freut mich, dass dir die Wunderland-Woche gefallen hat! 😊
      Ich kann verstehen, dass du dieses Gefühl hast, ich persönlich habe es aber eigentlich nicht. Also nicht so, dass ich glauben würde, dass etwas total ungebührliches zwischen Alice und Dodgson vorgefallen wäre. Einfach, weil ich daran glauben will, dass er sonst nicht sein Leben an diesem College verbracht hätte, unter den Augen Alice‘ Vater.

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  8. Liebe Gabriela,

    ich kann mich den vorherigen Kommentaren nur anschließen – ein zweifellos toller Beitrag.
    Du hast richtig gut recherchiert, gleich noch nen Buchtipp rein gepackt und ich habe endlich einen Background zu der berühmten Geschichte.
    Es ist natürlich fraglich, welche gefühle Dodgson gegenüber der jungen Alice hegte, allerdings finde ich es gut, dass du es nicht zwielichtig darstellst.

    Liebe Grüße
    Tina

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    • Liebe Tina!
      Dankeschööön! =) Mir liegt Alice einfach schon seit so vielen Jahren am Herzen, dass ich ihr einfach ein bisschen mehr Raum widmen musste.
      Ich wollte nichts beschreiben, was vielleicht am Ende gar nicht wahr war, denn einige Annahmen deuten ja auch eher auf ihre ältere Schwester hin, und eh ich mich in wilden Spekulationen verliere….

      Ganz liebe Grüße!
      Gabriela

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