[Writing Friday] Traumverloren

Gwenny hatte nun endlich begriffen, dass sie weg gehen musste. Oder nicht? Niemals länger als ein paar Tage an ein und demselben Fleckchen Land bleiben, hatte sie sich damals geschworen. Damals, vor so langer Zeit, ein halbes Leben.

Doch dieses Land war ihr in den letzten Wochen so sehr ans Herz gewachsen, diese wilde, einmalige Natur, und ja, auch die Menschen. Wehmütig saß sie auf der breiten Veranda, ein lauer Wind strich ihr um die Nase. Sie summte ein altes Lied, das ihr in den Sinn kam. Summer time … and the last snow dies … Sie schirmte ihre Augen gegen den strahlenden Sonnenschein ab, der sich seinen Weg durch vereinzelte Wolken bahnte. Sie würde es vermissen hier zu sein.

Ihr Herz fühlte sich zerrissen an. Auf der einen Seite war das Fernweh, die Sehnsucht nach dem Unbekannten, dass sie seit zehn Jahren stets im Herzen trug. Dass sie davor bewahrte zur Ruhe zu kommen und darüber nachzudenken, was damals passiert war. Auf der anderen Seite war die Angst, von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden. Phill, ihr kleiner Bruder, flüsterte ihr ins Ohr Vergiss mich nicht, doch seine Stimme wurde vom Wind erfasst und davongeweht. Sie drehte den Kopf in die Richtung, doch die Erinnerung an ihn verblasste bereits. Sie wusste, dass es nichts nützte, wenn sie davon lief. Er würde immer bei ihr bleiben. Er und der dunkle Keller, in dem er starb. Sie schüttelte ihren Kopf, verdrängte das lang zurück liegende Unheil wieder, dass über sie beide hereingebrochen war, in einer Nacht vor zehn Jahren. In dieser Nacht. Der längsten ihres Lebens.

Ihr Blick verweilte auf dem Haus ihrer Nachbarin. Die alte Frau hatte für die Tage, die sie nun hier war, eine Art Mutterrolle für sie übernommen. Mrs Norma war eine gute Frau, bodenständig, hilfsbereit. Sie wusste, wann sie nicht nachfragen sollte, wann Gwenny allein sein wollte. Und das wollte sie oft, noch heute. Sie seufzte, atmete den süßen Duft des Grases ein. Wie schön wäre es doch, wenn sie hier bleiben könnte, dachte sie. Wurzeln schlagen. Vielleicht noch ein paar Tage, das Geld reichte noch für eine Weile. Sie stand auf, kehrte dem Sonnenschein den Rücken zu und begab sich in die schattige Kühle des Hauses. Eine Limonade wäre jetzt genau das Richtige, dachte sie. Plötzlich spürte sie ein brennendes Durstgefühl in der Kehle. Sie schaute in der Küche nach, doch dort wurde sie nicht fündig. Wo hatten die Mills, deren Haus sie hütete, wohl ihre Vorräte aufbewahrt? Sie suchte alle Räumlichkeiten nach einer Vorratskammer ab, doch nichts dergleichen fand sich. Nur die kleine unscheinbare Tür, die in den Keller führte, die öffnete sie nicht. Sie blieb davor stehen und spürte, wie sich langsam Gänsehaut auf ihren Unterarmen breit machte. Zehn Jahre, dachte Gwenny. Wenn ich endlich anfangen will ein neues Leben aufzubauen, dann sollte ich in der Lage sein, über meine alten Ängste hinweg zu kommen. Sie spürte ihren Herzschlag, bumm bumm bumm, als sie sich der Kellertür näherte. Mit zitternden Fingern griff sie nach der Tür, sie fühlte sich kalt an. Sie zuckte zurück, atmete durch. Nochmal, sagte sie sich. Entschlossen griff sie nach dem Knauf, drehte ihn und ….

Ein Schrei ließ ihr Herz verstummen, nur eine Sekunde, vielleicht zwei. Sie warf die Tür zu. Das war doch verrückt! Eindeutig hatte sie die Stimme ihres Bruders gehört, der geschrien hatte. Nichts daran ist eindeutig, sagte sie laut. Ihre Stimme zitterte. Er konnte nicht in diesem Keller sein. Er war tot. Seit zehn Jahren. Sie atmete heftig ein und aus, griff erneut nach dem Knauf und drückte die Tür wieder auf.

Stille.

Sie wartete, bis sich ihr Herz beruhigt hatte, dann tastete sie nach einem Lichtschalter an der Wand, fand keinen und tat einen Schritt weiter hinein. Sie spürte die Kälte, die unter der Treppe hervorkroch, die hinab führte. Hinab, hinab, durchs Kaninchenloch. Der alte Kinderreim fiel ihr unvermittelt ein, fast hätte sie gelächelt. Endlich fand sie den Schalter, drückte ihn und gelblich trübes Licht sprang flackernd an. Der Schrei setzte wieder ein, lauter dieses Mal, schriller. Er kam aus ihrem Mund. Es konnte nicht sein, und doch sah sie es deutlich vor sich. Es war der Keller. Derselbe Keller, aus dem sie vor einem halben Leben geflohen war. Der Keller, in dem sie mit ihrem Bruder gefangen gehalten wurde. Ihr kleiner Bruder, der schrie und schrie und schließlich starb.

Sie drehte sich auf der Stelle um, doch sie verfing sich mit ihrem Absatz im Holz, kam ins stolpern, stürzte. Stürzte die Treppen hinunter, ihr Magen protestierte, ihre Arme und Beine schlugen hart auf den Stufen auf. Unten blieb sie liegen, sie konnte sich nicht mehr rühren. Das Licht erlosch. Ihre Sinne schwanden.

Als Gwenny erwachte, fror sie erbärmlich. Das Licht war noch immer aus, es dauerte lange, bevor sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnten. Sie tastete den Boden um sich herum ab, wo war sie? Als sie gegen etwas tödlich kaltes stieß, zog sie ruckartig ihre Hand zurück. Endlich erkannte sie einzelne Konturen. Neben ihr lag etwas kleines, ein zusammengerollter Körper. Ihr Bruder. Er war nicht seit zehn Jahren tot, das war nur ein Traum. Ein Traum von Tod und Freiheit. Ein Traum, nach dem sie sich zurücksehnte, auch wenn das bedeutete, dass ihr kleiner Bruder wieder sterben müsste, damit sie fliehen konnte. Sie berührte seine Hand, sie war eiskalt. „Phillip?“ Er bewegte sich nicht, kein Atemzug entwich seinen zusammengepressten Lippen. „Phillip!“ Sie suchte seinen Puls und fand keinen. Sie schrie. Ihr kleiner Bruder war wirklich gestorben. Nur sie war immer noch hier, gefangen in einem Keller, während draußen der Wind durch die Gräser strich und jemand auf seiner Veranda saß, ein Liedchen summte und Limonade trank.

schnörkel


Der Writing Friday ist eine Aktion von readbooksandfallinlove! Jeden Monat gibt es neue Schreibaufgaben, denen man sich widmen kann. Dieses Mal habe ich habe ich mich an einer Geschichte versucht, die mit dem Satz Gwenny hatte nun endlich begriffen, dass sie weg gehen musste beginnt.

Ihr wollt mehr schreiben und braucht einen Anreiz? Dann schaut vorbei!

Weitere Teilnehmer

 

schnörkel

22 Comments on “[Writing Friday] Traumverloren

  1. Woah! Liebe Gabriela, ich kann gar nicht beschreiben, wie mich diese Geschichte mitgenommen hat! Ich habe jetzt noch Gänsehaut. Du hast ein solches Talent zum Geschichtenerzählen ❤ Allein der Kontrast zwischen dieser anfänglich scheinbar friedlichen Stimmung, die dann in das pure Grauen umschlägt. Ich bin hin und weg.
    Liebste Grüße,
    Ida

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  2. Liebes, ich brauche noch einen Moment, um meinem Puls wieder zu beruhigen! Deine Geschichte ist so unheimlich gut – du könntest gut Stephen King Konkurrenz machen! Die arme Gwenny tut mir unendlich leid… ich hoffe sie kann sich aus diesem Keller befreien! Auf jeden Fall finde ich es grossartig, was du aus diesem Satz gemacht hast – mit diesem Schicksal für sie hätte ich nicht gerechnet!
    Hab einen wundervollen Tag.
    Ps. Ich liebe deine Alice im Wunderland Anspielung 😀

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    • Liebste Elizzy! ❤️
      Wie lustig, ich hatte gerade noch Ida gesagt, dass ich beim Schreiben der Anfangsszene so ein King-Gefühl hatte mit der trügerischen Idylle 😅 aber ihm Konkurrenz machen .. So ein tolles Kompliment ❤️

      Das wünsch ich dir auch!
      Ps: Ein wenig Alice muss immer sein ☺️

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  3. OMG! Ich hatte richtig Gänsehaut als klar war, dass sie wirklich gefangen war und der Rest ein Traum! Super gruselig! Dieser kleine Ausschnitt ist echt mega geworden. Absolut gelungen! So einen Gruselmoment hatte ich nicht einmal beim Lesen meines letzten Thrillers! Bravo!

    Bei mir geht es heute ganz entspannt um den Bikini. Freue mich HIER auf deinen Besuch. 🙂
    GlG, monerl

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    • Huhu monerl!
      Yaay, das hör ich doch echt gern, dass es dich gruseln konnte! 😄
      Deinen Beitrag schau ich mir auch gleich sehr gern an 🙂

      Liebste Grüße! ❤️
      Gabriela

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  4. Wirklich spannend, und auch so unvorhersehbar. Ich dachte, sie wäre irgendwie wieder in dem Haus der Peiniger gelangt, dabei war sie nie weg. Ziemlich gut geschrieben.

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  5. Hey Gabriela,
    erst hat mich deine Geschichte an Chocolat erinnert und dann wurde schnell Shining draus.
    Sehr unerwartet und super spannend beschrieben. Habe gerade bestimmt ne Minute die Luft angehalten. 🙂
    Grüße, Katharina.

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  6. Um es mal mit meinen Worten zu sagen: „krasses Ding“ Wow die Idee und die Art von geschriebenen, richtig gut. Konnte mir alles gut vorstellen. Und der Schluss ist wirklich, wirklich der Hammer. Ich sah den Typen regelrecht grinsend, während die Kleine Todesangst hat. Das war genau nach meinem Geschmack. 👍

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