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Nebelig, grau und trüb hing ein dünner Schleier aus Wolken vor der Sichel des Mondes, als Isobel von ihrem Fenster auf den dunklen Hof blickte. Der Brunnen war trotzdem gut zu erkennen. Genau in der Mitte des Hofes schimmerte er im fahlen Licht. Sie hatte sich ihren flauschigen Morgenmantel übergeworfen, ihre Füße steckten in abgetragenen Pantoffeln, die Zehen aber waren bereits eiskalt. Keine Maus regte sich im Inneren des alten Hauses. Sie entzündete mit Hilfe eines Streichholzes eine Kerze, hielt sie von sich weg und versuchte dabei, ein Zittern zu unterdrücken. Dann schlüpfte sie lautlos aus ihrem Zimmer und schlich die Treppe am Ende des Flures hinauf. Bitterkalt war es hier, doch Isobel ließ sich nicht von ihrem eigentlichen Vorhaben abbringen: Sie musste hinauf auf den Dachboden. Vorsichtig stellte sie die Kerze ab, blickte suchend hoch zur Decke und erkannte das Seil, das die Luke zum Dachboden öffnen würde. Dann holte sie einen kleinen Hocker herbei und kletterte hinauf. Ihre kalten Füße spürten kaum den gepolsterten Stoff unter sich. Kurz verlor sie das Gleichgewicht und schwankte hin und her. Doch dann griff sie nach oben, erwischte das Seil und zog kräftig daran. Zuerst tat sich überhaupt nichts, doch plötzlich gab die Luke nach und mit einem Knarren und Knarzen, bei dem Isobel dachte, das ganze Haus wäre sofort auf den Beinen, ließ sich die eingeklappte Leiter langsam herunter ziehen.
Oben auf dem Dachboden war es noch kälter als im Rest des Hauses. Isobels Hand zitterte und der Schein der Kerze flackerte über die mit Spinnweben verhangenen Gegenstände. Holz und Eisen. Wo war die Truhe? Isobel stellte die Kerze auf einen antik wirkenden Beistelltisch und sah sich um. Alte Spielzeuge türmten sich in einer Ecke, ein Teddy hing in einer merkwürdigen Haltung kopfüber herunter, wirre Fäden deuteten ein Loch in seinem Bein an. Als das Mädchen neugierig näher kam, fand sie eine kleine Box inmitten der Spielsachen. Behutsam nahm sie sie in die Hände und drehte sie hin und her. Eisen konnte sie nicht an ihr entdecken, doch neugierig drückte sie das kleine Springschloss auf. Beinahe hätte sie aufgeschrien. Der Deckel der Box flog nach hinten und heraus kam ein Schachtelteufel, das Gesicht schaurig bemalt. Während sich Isobels Herz langsam beruhigte, wippte er mit einem gefährlichen Grinsen auf und ab. Sie riss sich mit aller Kraft von diesem Anblick los und schloss die Box wieder. Dann schaute sie sich weiter um.
In der gegenüberliegenden Ecke, unter einem kleinen Fenster, entdeckte Isobel schließlich etwas, das ihr Interesse weckte. Eine hinter alten Vorhängen und Laken versteckte, große eisenbeschlagene Truhe mit einem schweren Vorhängeschloss. Sie hockte sich davor und rüttelte an dem metallenen Schloss. Nichts geschah. Frustriert ließ sie von ihrem Vorhaben ab und strich sich nachdenklich durch den roten Lockenschopf. Vielleicht kann ich ja … dachte sie, schloss die Augen, packte das Vorhängeschloss entschieden mit beiden Händen und stellte sich einen Schlüssel vor, der genau in das Loch passen würde. Sie sah die Verzierungen vor sich, den rötlichen Glanz des Rostes am Griff, sie spürte, wie sie den Schlüssel umdrehte. Als das Klicken erklang, öffnete sie ihre Augen wieder und blickte erstaunt auf das Schloss, welches nun lose an seinem Aufhänger baumelte. Ein ungläubiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie die Truhe endlich aufklappte. Tief gruben sich ihre Arme in alte, nach Mottenkugeln riechende Stoffberge. Sie wühlte und wühlte, doch erst auf dem Boden wurde sie fündig. Ihre Finger ertasteten ein eingerolltes Stück Pergament, welches mit einem seidenen Bändchen zusammengehalten wurde. Vorsichtig zog sie es heraus. Es knisterte leise unter ihren Fingerspitzen. Die Wolken hatten sich mittlerweile verzogen und der Mond spendete bläuliches Licht, welches sich mit dem warmen Schein der Kerze mischte. Nachdem sie den Knoten lösen und das Papier entrollen konnte, fiel ihr Blick sofort auf die kunstvolle Schrift, die das bräunliche Papier bedeckte.

Isobel merkte, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte und ließ diese nun mit einem leisen Pfeifen entweichen. Das war mehr, als sie sich erhofft hatte! Noch einmal las sie den Brief, wiederholte still die Anweisungen, die er ihr gab.
Der Brunnen ist dein Ziel,
die unsichtbare Treppe ein Versprechen.
Wenn die Zeiger sich rückwärts drehen,
wirst du fündig sein.
Wenn die Zeiger sich rückwärts drehen … Was bedeutete das? Welche Zeiger? Isobel überlegte fieberhaft, doch ihr wollte nichts einfallen. Sie rollte das Papier wieder zusammen, verschloss es mit dem Bändchen und steckte es vorsichtig in eine ihrer großen Manteltaschen. In diesem Moment hörte sie einen unterdrückten Aufschrei und zischendes Fluchen aus dem Dunkel unter der Falltür. „Wer lässt denn die Leiter hier im Dunkeln stehen, da bricht man sich ja den Hals! Hey! Wer ist da oben?“, erklang die Stimme eines der älteren Mädchen. Isobel verschloss in Windeseile die Truhe, schob sie an ihren Platz zurück und rief leise nach unten: „Ich bin es nur, Isobel! Ich komme jetzt wieder runter!“ Das Mädchen wartete am Fuß der Leiter mit verschränkten Armen. „Isobel. Hab ich es mir doch gedacht. Was treibst du da oben, mitten in der Nacht?“ „Ich … äh … ich wollte nur meinen … meinen alten Teddy besuchen, jawohl!“ Etwas Besseres fiel Isobel auf die Schnelle nicht ein. Das Mädchen blickte sie skeptisch an, nickte dann aber langsam und sagte: „Klapp die Leiter wieder hoch. Es wird ja arktisch kalt hier unten. Und dann geh wieder ins Bett. Los!“ Während Isobel tat wie befohlen, dachte sie weiter über die Anweisungen auf dem Stück Papier nach. Sie musste diese Uhr finden.

Der Oktober steht im Zeichen der Geisterwesen. Halloween, welches am 31. Oktober jeden Jahres gefeiert wird, geht auf das alte keltisch-irische Fest Samhain zurück. Hier, so sagt man, konnten Menschen Kontakt zu Wesen jenseits unserer Welt aufnehmen.
Die Kurzgeschichte rund um Isobel gehört zu meinem Romanprojekt, an dem ich seit einiger Zeit schreibe. Begleitet Isobel auf ihrer Reise zur Anderswelt! 4 Wochen lang wird an dieser Stelle nun ein Kapitel veröffentlicht, bis der Abend der Geister vor der Türe steht.
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