[The Story Behind] Ein echter Junge?

Liebste Bücherwürmer!

Ich bin ein Mensch, dessen Kindheit von Trickfilmen der besonderen Art geprägt war. Ich wuchs auf mit dem Wissen, an jedem Weihnachtsfest einen weiteren Film über kleine und große Helden, mit viel Gesang und einer guten Prise Herzschmerz dem stetig wachsenden Repertoire heimischer Videokassetten hinzufügen zu können. Die Rede ist – selbstverständlich – von Disney.

Auch heute schaue ich mir die liebgewonnenen Geschichten gerne immer und immer wieder an, singe aus vollem Hals mit und weine um die Verlorenen. Doch mich interessieren nun die Geschichten, die dahinterstecken. Welches Buch war ausschlaggebend für welchen Film? Und wie wurde die Geschichte umgesetzt? Dem möchte ich in dieser Beitragsreihe nachgehen. Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen, suchen wir gemeinsam The Story Behind.

Pinocchio

Ungezogener Lausebengel

1940 erblickte eine hölzerne Puppe namens Pinocchio das Licht der Welt. Als zweiter abendfüllender Zeichentrickfilm aus dem Hause Disney trat er damit in die tiefen Fußstapfen Schneewittchens und der sieben Zwerge.

Pinocchio ©Disney

Zunächst sollte eigentlich Bambi diesen Platz einnehmen, doch die Ideen für Pinocchio sprossen weitaus schneller und so lief der kleine Lausebengel dem jungen Rehkitz schließlich den Rang ab. Trotzdem wurde Pinocchio nicht ganz so ein großer Erfolg wie sein Vorgänger, da mit dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs auch die Kinokassen weniger klingelten. In Italien ließ man sogar den Neffen Carlo Collodis, also des Autors des gleichnamigen Buches, seine diplomatischen Beziehungen spielen, um den Erfolg des Filmes zu verhindern. Denn dass das hölzerne Maskottchen Italiens verniedlicht, ja amerikanisiert werden sollte, das wollten sich die Italiener nicht bieten lassen.

Walt Disneys Lieblingsfilm

Glücklicherweise wurde Pinocchio dennoch ein großer Erfolg, spätestens bei seiner Wiederaufführung im Jahr 1973, deren Synchronfassung nunmehr die einzig zulässige ist. Denn die ursprüngliche Vertonung wurde verwässert, düstere Klangpassagen abgemildert, um ein freundlicheres Gesamtbild zu erschaffen. Außerdem war Pinocchio der Lieblingsfilm von Walt Disney, und das soll doch schon was heißen. Also, worum geht’s?

Mich halten keine Fäden fest,
ich bin allein auf dem Podest,
ich bewege mich ganz frei,
kein Mensch hilft mir dabei.

(Pinocchio)

Gepetto lebt allein mit Katz und Goldfisch in seiner Werkstatt. Er ist ein talentierter Uhren- und Spielzeugmacher und schnitzt sich eines Abends eine hübsch anzuschauende Marionette namens Pinocchio. Er schläft mit dem Wunsch ein, Pinocchio möge ein echter Junge sein, und tatsächlich wird ihm dieser Wunsch von der blauen Fee erfüllt. An Pinocchios Seite finden wir Jiminy Grille, sein Aufpasser und sein Gewissen – und der heimliche Star dieser Geschichte! Pinocchio macht einen kindlich naiven Eindruck, und ist ansonsten erst einmal darauf bestrebt, seinem Vater zu gefallen. Bis … Ja, bis es daran geht, in die Schule zu gehen. Denn auf dem Weg dahin begegnet er zwei Gaunern, Fuchs und Katze, die alles daran setzen, unseren kleinen Jungen ins Verderben zu geleiten.

Versuchungen des Lebens

Pinocchios Abenteuer führen ihn über das Puppentheater des berüchtigten Strombolis bis hin zur Vergnügungsinsel, auf der alle Jungen sich dem faulen Leben hingeben können. Prügeln, Sachen kaputt schlagen, rauchen und trinken ohne sich die Lehren der Eltern anhören zu müssen – selbst für den eigentlich frisch geschlüpften Pinocchio eine große Versuchung. Doch ach, auf der Insel werden die Jungen schnell zu den Eseln, die sie im Inneren sind. Nur dank seines kleinen grilligen Gewissens gelingt es Pinocchio, noch rechtzeitig Reißaus nehmen zu können. Er landet im Meer, und später dann im Bauch des gewaltigen Wales Monstro, bei dem ihm auch endlich Gepetto wieder begegnet.

Und auch wenn Pinocchio selten auf die guten Ratschläge seiner Freunde hört, so möchte man es ihm doch gar nicht krumm nehmen. Er sieht einfach zu drollig aus mit seinen großen runden Augen und seinem kindlichen Gemüt, um ihn tatsächlich für bösartig zu halten. Dieses Bild konnte Carlo Collodi leider nicht von seinem Holzpüppchen zeichnen.

Die Abenteuer des Pinocchio

Geschichte eines Hampelmanns

1881 erschienen in einer Wochenzeitschrift in Italien die einzelnen Episoden des späteren Gesamtwerks Pinocchio aus der Feder von Carlo Collodi.Dieses Buch sollte sein einziger Erfolg in der Literatur werden, und das auch erst nach seinem Tode.

Allerdings regte seine Geschichte einige andere Schriftsteller dazu an, Geschichten über ein lebendiges Holzpüppchen zu verfassen. Die wahrscheinlich bekannteste Adaption ist wohl Alexei Nikolajewitsch Tolstois Abenteuer des Burattino oder Das goldene Schlüsselchen von 1936. Von dieser Adaption habe ich als Kind einen Trickfilm gesehen, der interessanterweise zumindest zu Beginn deutlich mehr Originaltreue zu Pinocchio aufweist, als es der Disneyfilm tut.

Gar nicht mal so nett!

Das Buch beginnt nicht bei Meister Gepetto selbst, sondern bei einem trinksüchtigen Meister Kirsche. Dieser möchte sich aus einem Stück Holz ein Tischbein schnitzen, doch jedes Mal, wenn er auf das Scheit einschlägt, schallt ein Schrei durch seine Werkstatt. Dem Wahnsinn nahe, denn er kann ja niemanden finden, der geschrien haben könnte, bekommt er Besuch von seinem alten Freund Gepetto. Dieser ist – entgegen dem lustigen alten Mann bei Disney – ein ziemlicher Griesgram, den die Kinder gerne Strohkopf rufen aufgrund seiner gelben Perrücke. Auch jetzt wird ihm dieser Schimpfname an den Kopf geworfen und wutentbrannt stürzt er sich auf Meister Kirsche. Nach einigem Hin und Her nimmt Gepetto schlussendlich das quäkende Holzscheit mit sich fort, um daraus eine Marionette zu schnitzen, mit der er dann auf Reisen gehen kann.

Dieser Hohn und diese Unverschämtheit machten Gepetto so traurig und schwermütig, wie er sein Lebtag noch nie gewesen war, und zu Pinocchio gewandt sagte er: „Du Schlingel von einem Sohn, du bist noch nicht einmal ganz fertig und schon fängst du an und lässt es deinem Vater gegenüber an Respekt fehlen. Schlimm, mein Junge, sehr schlimm!“

(Pinocchio |S. 26)

Der original Pinocchio hat es bereits als unfertiges Püppchen faustdick hinter den Ohren, triezt und ärgert seinen Vater und hat immer einen frechen Spruch auf den aufgemalten Lippen. Kein Wunder also, dass er sich weigert, in die Schule zu gehen, nachdem er nun einmal seine vollendete Gestalt erhalten hat. Ja, er geht sogar so weit, Gepetto auf der Straße so zu blamieren, dass dieser schließlich ins Gefängnis geworfen wird. Und Pinocchio? Der treibt derweil sein Unwesen allein zuhause. Da erscheint ihm nämlich eine große Grille, die ihm gern mit Rat und Tat zur Seite stehen möchte, was Pinocchio nun aber so gar nicht passt. Und schwuppdiwupp! da fliegt auch schon der Holzhammer und tötet die Grille. Tja, das war es wohl mit Jiminy. Oder auch nicht, denn auch wenn die Grille eigentlich längst tot ist, hört Pinocchio doch immer wieder die weisen Ratschläge dieses Insekts, und orientiert sich im Laufe seiner Abenteuer hin und wieder sogar an ihr.

Vom Geldvermehren, Feen und Eseln

Pinocchio erlebt im Buch natürlich einige Abenteuer mehr als in der Disneyadaption. So finden sich zwar auch Katz und Fuchs schnell ein, doch diese begleiten das hölzerne Bürschlein länger und durchtriebener. Nachdem Pinocchio dem Puppentheater des Feuerfressers einen Besuch abgestattet hat – und dabei nicht der Star des Theaters wurde -, erhält er aus Mitleid für seinen armen Vater (der seinen letzten Rock verkaufte, um dem kleinen Nichtsnutz eine Fibel für die Schule zu kaufen, die dieser dann prompt in Theaterkarten umwandelte …) fünf Goldstücke. Fuchs und Katze beteuern nun, ein Feld zu kennen, auf dem man sein Gold mehren könne, indem man es nur einpflanze. Natürlich steckt da ein ganz perfider Plan dahinter. Allerdings dauert es sehr, sehr lange, bis Pinocchio dahinterkommt. Wie soll er auch, sein gutes Gewissen hat er ja bereits zu Beginn des Buches erschlagen.

Auch die gute Fee nimmt sich ein wenig seltsam aus. So ist sie eigentlich ein Mädchen mit blauem Haar, welches bei ihrem ersten Aufeinandertreffen mit Pinocchio von sich selbst behauptet, tot zu sein, es später dann auch ist und dennoch einige Zeit später quicklebendig wieder auftaucht, um seine Mutter zu mimen. Allgemein vergeht viel Zeit in diesem Buch, denn auch Pinocchio landet einmal für wenigstens vier Monate im Gefängnis, verbringt stolze fünf Monate im Spielzeugland, und als er später im Walbauch auf seinen Vater trifft, da harrt dieser bereits seit zwei Jahren im Dunkeln aus. Und so sehr man sich bemüht, man kann ihn nicht so recht ins Herz schließen, diesen Tunichtgut. Auch wenn er sich hin und wieder doch bemüht das richtige zu tun, ja, sogar monatelang in die Schule geht und dort der Beste werden will, so ist er doch immer wieder rasch auf der faulen Seite des Lebens zu finden. Die Einsichten, die ihn schließlich zu einem echten Jungen machen werden, die lassen lange auf sich warten.

Die Moral-Keule

Und auch wenn man sich schnell durch die einzelnen Kapitel lesen kann, die richtige Magie stellt sich nicht ein. Warum? Weil man immer das Gefühl hat, von allen Figuren belehrt zu werden. Immer wieder finden sich schlaue Sprüche, die den kleinen Holzkopf nun so gar nicht interessieren. Disneys Pinocchio hingegen rührt durchaus das Herz, indem er eher naiv als rotzfrech dargestellt wird, und man ihm so die eigene Unwissenheit weitaus schneller verzeihen möchte.

Außerdem ist der original Text an manchen Stellen auffallend brutal gehalten. Im Spielzeugland allein werden einem ungezogenen Eselchen beide Ohren vom Kutscher abgebissen, und das unreflektiert und ohne Gewissensbisse. Auch soll Pinocchio ertränkt werden. Denn nachdem er ein Esel wurde – und nicht nur Ohren und Schwanz bekam -, wurde er an einen Zirkus verkauft. Dieser machte ihn zu einem tanzenden Esel, doch der erste Auftritt ging schief, die Hinterbeine lahmten und Pinocchio wurde wieder verkauft. Dieses Mal jedoch an einen Mann, der eine Trommel mit dessen Fell beziehen wollte, und dem Esel die Beine zusammenband, um ihn die Klippen hinab ins Meer zu stürzen. Zum Glück kamen Pinoccio jedoch ein paar Fische zu Hilfe, die ihm seine falsche Gestalt abfraßen.

Herzlich unsympathisch

Während Disneys Version des Pinocchio ein zeitloser Klassiker wurde, tat dem Original meinem Gefühl nach die Zeit keinen Gefallen. Was früher vielleicht als moralisch wichtig erachtet wurde, erscheint heute eher als hölzerne (haha) Parade. Außerdem hätte der kleinen Marionette etwas wichtiges von Anfang gutgetan: nämlich ein Herz.

Und auch wenn erst kürzlich Coppenrath eine erneut wundervolle Neuauflage des Originals auf den Markt gebracht hat, so bleibe ich dennoch eher dem großäugigen Naivling Disneys treu, als dem unsympathischen Original.


Disneys abendfüllende Zeichentrickfilme im direkten Vergleich zu ihren literarischen Vorlagen:
The Story behind.

Mehr Beiträge zu dieser Reihe gibt es hier:
Cap & Capper: Fuchs und Hund – Freunde oder Feinde?
101 Dalmatiner: Wertvoll gepunktet
Dumbo: Ich hab viel gesehen auf dieser Welt, …!
Bambi: Von Reh zu Hirsch
Aladdin: Der ungeschliffene Diamant
Arielle: Unter dem Meer
Robin Hood: Im wilden Sherwood Forest
Das Dschungelbuch: Dschungelgeschichten
Bernhard und Bianca: R-E-T-T-U-N-G
Schneewittchen: Spieglein, Spieglein, an der Wand
Die Eiskönigin: Völlig unverfroren adaptiert
Mulan: Vom Kampf der Geschlechter
Peter Pan: Auf ins Nimmerland!
Pocahontas: Das Farbenspiel des Winds
Alice im Wunderland: Ab durch den Kaninchenbau
Der Glöckner von Notre Dames: Der Narrenpapst
Die Hexe und der Zauberer: Das Schwert im Stein
Oliver und Co: Eine Katze unter Hunden
Basil, der große Mäusedetektiv: Von Mäusen und Detektiven

16 Comments on “[The Story Behind] Ein echter Junge?

  1. Hallo Liebes, wieder ein super toller Beitrag! Ich wusste gar nicht, dass das Original teilweise so brutal ist. Mir gefällt da die Disney Variante auf jeden Fall auch besser 😀

    Gefällt 1 Person

    • Hallöchen Liebes!
      Oh ja, da war ich an manchen Stellen auch recht… schockiert. Auch dass Pinocchio von zwei Räubern am Baum aufgeknüpft wird, kam mir für eine Kindergeschichte doch recht fies vor. 😀

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  2. Hallo Gabriela!
    Hach, die Coppenrath Ausgabe steht auf meiner Wunschliste zu Weihnachten. ❤
    Jetzt zur Geschichte: Natürlich kenne ich den Disney Film und ich finde ihn auch sehr toll. Aber ich habe auch mal eine Serie glaub ich war das gesehen, die sich eher an die Originalgeschichte hält. Wobei mir Pinocchio da auch eher leid tat, denn er wurde dort auch einfach als sehr naiv dargestellt. Wahrscheinlich wollten die Macher das etwas netter für Kinder gestalten.
    Das Buch kenne ich leider gar nicht.
    Bin auf jeden Fall gespannt. 🙂
    Liebe Grüße
    Diana

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    • Huhu Diana!
      Na das is auf jeden Fall ein schöner Wunsch von dir =) ich bin gespannt, wie dir das Original gefallen wird, ich bin ja leider nicht ganz warm geworden mit unserem Holzkopf 😄 Die Serie kenn ich gar nicht, aber wenn er da so naiv dargestellt wird, muss das vllt auch nicht sein =)

      Liebe Grüße!
      Gabriela

      Gefällt 1 Person

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