[Tribute to Neil Gaiman] My Valentine

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Der Tag gehörte bereits der Vergangenheit, die Nacht begann mit eisigen Windböen und einem Regen, der sich nicht recht entscheiden konnte, ob er sich in Eiskristalle verwandeln wollte, oder nicht. Missy zog ihren Kopf ein und lief schnellen Schrittes durch die Straßen New Yorks. Sie fühlte sich unwohl, beobachtet. Als ob sie jemand verfolgte, der, sobald sie sich umdrehte, in den Schatten der Nebenstraßen verschwand. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinab, und Missy lief noch ein bisschen schneller.
Endlich war sie da. Vor ihr zeigte sich ein halb verborgener Hauseingang, daneben lag ein umgekippter Blumenkübel. Die tote Pflanze darin sah mitleiderregend aus. Missy erschrak, als der elektrische Lichtschein aufflammte und schalt sich im nächsten Moment eine Närrin. Sie suchte vergeblich nach einer Klingel und klopfte schließlich dreimal fest gegen die verwitterte Tür. Mit einem Ruck öffnete sich diese nach innen und im Halbdunkeln des Hausflures erschien eine füllige ältere Dame. Sie verzog kurz den Mund zu einer Art Lächeln und bedeutete Missy dann, einzutreten.

„Nun, was führt Sie zu mir?“, wollte die Frau wissen, nachdem Missy sich auf einem harten Stuhl niedergelassen hatte, der in der unordentlichen und nach verkochtem Essen stinkenden Küche stand. Madame Smeraldina, ihrer Visitenkarte nach Wahrsagerin und Lebenskünstlerin, sah sie eindringlich an.
„Sie sind unglücklich, habe ich recht?“
„Woher wissen Sie das?“, fragte Missy erstaunt und betrachtete die Wahrsagerin neugierig.
„Ach. Jeder ist unglücklich, bevor er zu mir kommt, wissen Sie. Deswegen kommen sie ja alle zu mir, damit ich ihnen sage, was sie in ihrem Leben anders machen sollen.“
Missy knibbelte an ihren Fingerspitzen herum und fuhr sich nervös mit der Zunge über die spröden Lippen.
„Ja, also, es ist so. Ich habe meinen Job gekündigt, war nichts für die Dauer. Die Arbeitszeiten, die Verantwortung.“
„Die Leichen?“, warf Madame Smeraldina ein und hob eine Augenbraue.
„Wie … äh, ja. Die auch“, gab Missy errötend zu.
„Und, sind sie seitdem glücklicher?“
„Nein, eigentlich nicht. Seitdem ist es so, als ob ich auf etwas größeres warte. Ich warte und warte, tagein und tagaus, aber es passiert nichts. Sagen Sie mir bitte, das kann doch nicht alles gewesen sein, was das Leben für mich bereithält, oder?“
„Nicht jedem von uns ist eine Hauptrolle im Spiel des Lebens vorherbestimmt“, meinte die Wahrsagerin leichthin. Sie starrte Missy an und tat, als könnte sie so bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Aber vielleicht konnte sie das auch?
Missy straffte die Schultern und hob das Kinn leicht an. „Vielleicht muss ich einfach jemanden neues in mein Leben lassen. Jemanden, der mein Leben verändert. Damit dieses Leben wieder einen Sinn hat, verstehen Sie?“
„Sie sollten ihr Leben nicht von einer fremden Person abhängig machen. So etwas hat noch nie funktioniert und das wird es auch bei Ihnen nicht, meine Liebe.“
„Ja, aber…“
„Sssch“, unterbrach Madame Smeraldina sie, und Missy biss sich verlegen auf die Unterlippe. „Nun ja. Sie werden tatsächlich jemanden kennenlernen“, sagte die ältere Dame schließlich. Nachdem sie einen abschließenden Blick auf Missy geworfen hatte, fuhr sie fort und erklärte, dass ihr eine große Veränderung bevorstehen würde. Sie sehe Farben in Missys Zukunft, blau und rot und gelb. Ein Rautenmuster, etwas altmodisch vielleicht, aber durchaus vielversprechend. „Sie sollten sich in Acht nehmen, er spielt ein Spiel mit Ihnen. Wenn sie nicht aufpassen, wird er Ihnen das Leben unnötig schwer machen. Aber wenn sie vorbereitet sind und aufgeschlossen, dann haben Sie ihn in der Hand.“
„Wie meinen Sie das, er spielt ein Spiel mit mir? Wer? Und wann lerne ich ihn kennen?“ Doch der Rest lag im Dunkeln und die Wahrsagerin konnte oder wollte Missy keine nähere Auskunft geben.
Mit vielen neuen Fragen im Kopf trat Missy schließlich zurück in die kalte Nacht hinaus. Sofort spürte sie erneut dieses Gefühl,  sie war nicht allein. Doch alles Umschauen nützte nichts, sie erkannte nichts als Schatten und Schnee. Denn dieser fiel nun in dicken Flocken und bedeckte bereits die Erde knöcheltief. Keinerlei Fußspuren waren zu sehen und so versuchte sich Missy einzureden, dass sie sich dieses beklemmende Gefühl nur einbildete. Sie war allein und damit basta.

Zuhause angekommen, legte sich dieses Gefühl wieder, sie fühlte sich sicher in ihren eigenen Wänden und tat ihre Angst mit einem Schulterzucken ab. Wer sollte ihr schon folgen? Viel mehr beschäftigte sie die Prophezeiung der alten Wahrsagerin. Ja, sie konnte es bereits spüren, ihr Leben würde sich ändern. Sie warf einen Blick auf die schlafende Stadt vor ihrem Fenster. Stand da nicht jemand im Schatten der Laterne, kaum sichtbar und doch …? Missy hielt den Atem an und unterdrückte ein Blinzeln. Als ihre Augen anfingen zu tränen, schüttelte sie den Kopf über sich und ließ ein leises Lachen hören. „Sei keine alberne Gans, Missy. Alles was du brauchst, ist Schlaf. In wenigen Stunden ist Valentinstag und wer weiß? Vielleicht klopft dein neues Leben ja heute noch an deine Tür.“

Ein Hämmern an der Haustür ließ sie erschrocken aus dem Schlaf fahren. Die Sonne schien bereits auf ihr Bett und sie rieb sich verschlafen über das Gesicht. Dann warf sie sich einen Morgenmantel über, schlurfte an die Haustür und öffnete sie mit Schwung. In das Holz geschlagen hing ein noch frisches, blutiges Herz.

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Wie wird nun also Missys neues Leben beginnen? Von wem stammt dieses Geschenk an der Tür? Um das herauszufinden, müsst ihr Neil Gaimans Kurzgeschichte „Harlequin Valentine“ lesen, 2006 erschienen in Fragile Things. In der deutschen Ausgabe Zerbrechliche Dinge ist diese Geschichte leider nicht enthalten, was sie umso wertvoller im Original macht. Es gibt außerdem eine illustrierte Einzelausgabe der Geschichte. Also traut euch, begleitet den Scharlatan und seine Auserwählte ein Stück auf ihrem Lebensweg!

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21 Comments on “[Tribute to Neil Gaiman] My Valentine

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  8. Harlequin Valentine ist auf jeden auch auf meiner Merkliste gelandet. der Anfang ist ja genial…würde am Liebsten sofort weiterlesen, um zu erfahren, wie die Story weitergeht…

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  9. Bitteschön, wenn es aber doch stimmt… das ist der Grund, warum ich auch gerne nicht nur als Betaleserin nach Übersetzung in das Original zumindest reinlese
    (solange es in englisch ist… mein französisch und Italienisch ist einfach zu eingerostet inzwischen)
    Einfach daß ich den dem Autor ganz eigenen Stil, „Tonfall“ und natürlich Szenenstimmungen etc. „fühle“, erlese,…
    Es gibt zwar wirklich gute Übersetzungen aber leider eben auch schlechte, die ziemlich wenig mit dem Original gemein haben.
    Und dann gibt es solche, die zwar anders sind als das Original, aber dennoch sehr gut sind für sich gesehen.
    Deshalb ja auch meine imaginären Blumen…das Lob… an Dich.

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