[Writing Friday] Es war einmal im Herbst

es_war_einmal.jpg

Es war einmal in einer Zeit, in der Pflanzen und Tiere noch miteinander sprechen konnten. Ihr müsst wissen, sie könnten es auch heute noch, sie wollen nur nicht mehr. Damals aber hegten sie regen Austausch untereinander.
Ein langer Sommer war vergangen. Noch immer roch die Luft nach der Würze von getrocknetem Gras, Kräutern, die in der Sonne sprossen, nach den letzten Sommerblumen und nach der Freiheit der schönsten Jahreszeit. Doch allmählich wurden die Tage kürzer, die Schatten länger und die Freude weniger.

Das kleine Eichhorn Milli war ein Frühlingskind. Der Sommer kam ihr wie ein einziger langer Traum vor und von der bevorstehenden Härte des Winters hatte sie nicht die leiseste Ahnung. Zusammen mit ihren Geschwistern lebte sie in den Tag hinein, fraß, was sie fand, und kümmerte sich nicht um den Morgen. Immer wieder wurde sie von ihrer Mutter ermahnt, frühzeitig mit dem Anlegen von Vorräten zu beginnen. Doch Milli lachte nur, dafür wäre schon noch genug Zeit, sagte sie.
„Mama, siehst du nicht, wie herrlich alles blüht? Ich will hinaus in die Welt, herumtollen und den Sommer genießen!“ Damit sprang sie aus dem Nest und ward den ganzen Tag nicht mehr gesehen. Ihre Mutter sah ihr kopfschüttelnd hinterher. Natürlich war sie sich bewusst, dass die Zeit nie genug war und man in all seiner eigenen Vergesslichkeit nicht zu wenig Nüsse verstecken sollte.
Nun nahte der Herbst mit großen Schritten, doch Milli wollte noch immer nicht auf ihre Mutter hören. „Ich habe noch genügend Zeit, um Vorräte zu sammeln, Mama. Erst einmal will ich hinaus in die Welt, herumtollen und den Herbst willkommen heißen!“ Damit sprang sie wieder fort, ließ sich vom Wind tragen und dachte nicht an die Zukunft.

Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit Milli und ihrer Familie. Als das kleine Eichhorn eines Abends nach Hause kam und in das hoch oben im Baum gelegene Nest kletterte, erschrak es fürchterlich. Außer ihr war niemand mehr da. Ihre Mutter, ihr Vater, selbst ihre kleinen Brüder waren weg und hatten keine Spur hinterlassen. Nur eine einzelne braune Feder gab Aufschluss über das unsägliche Schicksal ihrer Familie. Milli verkroch sich in ihrer Schlafkuhle, ringelte den buschigen Schwanz um sich und weinte sich in den Schlaf.
Tage waren vergangen, in denen die Sonnenstrahlen immer weniger zu wärmen schienen. Milli hatte alle Freude am Herumtollen verloren. Ihre Familie fehlte ihr entsetzlich. Außerdem begann ihr Magen vernehmlich zu rumoren. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich allein hinaus in die Welt zu wagen. Sie versuchte sich zu erinnern, was ihre Mutter ihr immer versucht hatte beizubringen.
„Iss von den Prallen, und lass die Runzligen liegen.“
Milli gelangte zu dem Lieblingshaselstrauch ihrer Mutter. Doch als sie sich an den Haselnüssen gütlich tun wollte, erkannte sie voller Schreck, dass der Haselstrauch zu welken begonnen hatte. Die Nüsse waren verdorrt und lagen verstreut auf dem Boden herum.
„Oh weh!“, rief sie aus. „Lieber Haselstrauch, willst du mich verhungern lassen? Gib mir von deinen Nüssen, damit ich nicht hungern muss!“ Doch der Haselstrauch gab keine Antwort. Nur das traurige Rascheln trockener Blätter war zu hören.
Milli wanderte weiter, durchstreifte den ihr bekannten Teil des Waldes und gelangte schließlich auf eine Lichtung. Auf dieser standen einige Büsche, an denen rote Beeren hingen. Sie hüpfte über die Lichtung ohne auf ihre Umgebung zu achten. Der süße Duft der Beeren ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Doch ach – ein Habicht saß hoch oben im Baum und beobachtete den braunen Schatten, der flink über die Lichtung eilte. Schon schwang er sich herab, mit seinen messerscharfen Krallen wollte er sich die kleine Milli schnappen! Doch Milli gewahrte den großen Schatten über ihr gerade noch rechtzeitig, so dass sie hakenschlagend wie ein Hase in der schützenden Dunkelheit der Bäume Schutz fand. Doch nun traute sie sich nicht mehr hinaus auf die Lichtung und ließ mit knurrendem Magen die Beeren hinter sich zurück. „Oh weh!“, dachte sie bei sich. „Hätt ich nur von den Beeren naschen können, so müsste ich nun nicht hungern.“

Immer kälter wurde es, während Milli weiter und weiter von Zuhause fort lief. Ein eisiger Wind pfiff durch die Bäume und hätte das kleine Eichhorn beinahe umgeworfen. Auch fielen vom Himmel merkwürdige Flocken, weiß und kalt, mit denen Milli nichts anzufangen wusste. Eilig suchte sie sich einen Unterschlupf in einem Baum, um die Nacht in Sicherheit zu verbringen.
Der nächste Morgen brach an und mit ihm ein neuer Schrecken. Denn die weißen Flocken hatten sich in der Nacht vermehrt, die Welt, die Milli erblickte, war weiß. Vorsichtig streckte sie eine Pfote hinaus und spürte sofort die Kälte, die ihr Fell durchdrang. Doch es nutzte nichts, der Magen knurrte immer lauter und Milli musste es wagen. Hinaus in die Kälte!
Schon lange kannte sie ihre Umgebung nicht mehr, folgte gewundenen Wegen und knorrigen Bäumen, deren Äste voller Schnee lagen. Schließlich kam sie an den Waldrand. Direkt dahinter lag ein weites Feld, auf dem große, orangefarbene Gewächse standen. Noch nie hatte Milli so etwas gesehen. Sie hatte von dem Vorfall auf der Lichtung gelernt, und prüfte nun zuerst ihre Umgebung, bevor sie den kurzen Weg bis zu dem Feld huschte. Sie schnupperte an den Früchten und fand es ratsam, einen Versuch zu wagen.
„Oh, liebe orange Frucht, kannst du mir verraten, wer du bist?“
Zuerst geschah gar nichts, doch dann regte sich etwas in dem orangen Ball und Milli hörte eine dumpfe Stimme sagen: „Du dummes Ding, natürlich bin ich ein Kürbis!“ Milli erschrak aufgrund der bedrohlichen Stimme gewaltig, und wollte schon davonlaufen. doch der brennende Hunger hielt sie zurück.
„Lieber Kürbis, gib mir von deinem Fleisch zu essen, so dass ich nicht verhungern muss!“ Doch der Kürbis lachte nur, ein tiefes, brummendes Lachen. „Ich bin nicht zum Verzehr bestimmt. Bald ist Halloween, und dann werde ich leuchten und die bösen Geister vertreiben! Nun scher dich weg, bevor ich böse werden muss.“ Die Stimme verstummte und zurück blieb nur noch das Knistern des Windes. Zu allem Übel begann es nun auch wieder zu schneien. Geschwächt von dem tagelangen Verzicht, fror Milli entsetzlich. Sie huschte zwischen den großen Kürbissen auf dem Feld hin und her, bibbernd vor Kälte und Hunger. Doch die großen prallen Kürbisse zeigten keine Regung, sie standen abweisend und schweigend auf ihrem Feld. Mutlos wollte sich das kleine Eichhorn wieder in den Wald zurückziehen, da hörte es ein kleines trauriges Stimmchen.
„Kleines Eichhorn! Komm zu mir, ich will dir helfen.“
Milli sah sich um, doch sie konnte nicht erkennen, wem das Stimmchen gehören könnte. Am Ende des Feldes aber lag ein kleiner runzliger Kürbis. Im Gegensatz zu seinen großen Brüdern war er mickrig. Doch er hatte dem kleinen Eichhorn zugehört und Mitleid mit ihm bekommen. Seine Wurzeln waren zu kurz, er bekam nicht genug Wasser und war deswegen schon früh nicht mehr gewachsen. Endlich hatte ihn Milli erspäht und huschte näher heran. Ungläubig betrachtete sie den Mickerling. „Du willst mir helfen?“, fragte sie schließlich.
„Ich weiß, ich bin nicht so schön prall wie meine Brüder“, seufzte der kleine Kürbis. „Die Menschen wollen mich nicht an Halloween herausputzen, so klein und schrumpelig wie ich bin. Doch schmecke ich noch immer süß und saftig!“ Milli betrachtete ihn aufmerksam, das Grollen in ihrem Magen erhob sich erneut.
„Wenn du mich also bittest, würde ich dir erlauben, von mir zu essen. So bin ich wenigstens einem Lebewesen nützlich.“ Milli dachte an den Spruch ihrer Mutter, an die Prallen und Runzligen, doch in ihrer Not verwarf sie ihn schnell und sprach: „Lieber Kürbis, sei so gut, und lass mich von dir essen, damit ich nicht sterben muss!“ Und der Kürbis ließ Milli gewähren. Sie kostete von seiner Süße, die trotz seines mickrigen Wuchses ausgezeichnet war. Auch der Kürbis wars zufrieden, hatte er doch das Leben des kleinen Eichhorns gerettet. Milli nagte zwei Löcher in die Schale und als sie endlich satt und zufrieden war, machte sie es sich im Inneren des Kürbis gemütlich. Der kleine Kürbis summte zufrieden vor sich hin. Zu guter Letzt hatten also beide einen Freund gefunden.

schnörkel


writing_friday_banner

Der Writing Friday ist eine Aktion von readbooksandfallinlove! Jeden Monat gibt es neue Schreibaufgaben, denen man sich widmen kann.
Dieses Mal habe ich euch ein Märchen über ein kleines Eichhorn und einen Kürbis erzählt. Kommt gut in die kalte Jahreszeit!

Ihr wollt mehr schreiben und braucht einen Anreiz? Dann schaut vorbei!

Weitere Teilnehmer

 

schnörkel

15 Comments on “[Writing Friday] Es war einmal im Herbst

  1. Liebe Gabriela!

    Jetzt wünschte ich, diese Geschichte gäbe es als Bilderbuch – mit Illustrationen von Milli und dem kleinen, runzligen Kürbis. Das wäre der Hit ❤ Eine wirklich schöne und anrührende Geschichte!

    Liebste Grüße,
    Ida

    Gefällt 1 Person

  2. Ich beobachte täglich die Eichhörnchen vor meinem Fenster (sie haben mir sogar eine Walnuss in meinen Tomatentopf auf dem Balkon vergraben), wie sie fleißig Vorräte anlegen und in die Bäume huschen. Ob unter den verspielten Gesellen auch eine Millie ist, der ich im Winter einen Kürbis auf den Balkon legen sollte?

    Gefällt 1 Person

  3. Sali, Gabriela.
    Als Flora & Fauna noch miteinander sprachen; sogleich hatte ich das Fragebild vor Augen, wie denn die Kommunikation abliefe, wenn die einen die anderen inhalieren wollten.
    Dein Gleichnis gibt denn auch eine Antwort.
    Die Einschübe des Schreckens, nicht zu vergessen, denn Millis Familie brachte ihre Voraussicht auch nur den Tod.
    Vobei sich Jäger & Beute auch nicht zu unterhalten scheinen; vermutlich, weil die Beute zu flüchten versteht.

    Ich kann mir die Geschichte auch bestens als Bilderbuch vorstellen!

    bonté

    Gefällt 1 Person

    • Hallo 🙂
      Ich fürchte, manche Aspekte in Märchen dürfen nicht zu sehr überdacht zu werden.
      Aber die Idee mit dem Bilderbuch gefällt mir auch wirklich gut 🙂

      Liebe Grüße
      Gabriela

      Like

Hinterlasse eine Antwort zu Buchperlenblog Antwort abbrechen