[Rezension] Anja Jonuleit – Rabenfrauen

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Werbung | Erscheinungsdatum Erstausgabe: 27.05.2016  Verlag: dtv Verlagsgesellschaft

ISBN: 9783423261043  Flexibler Einband 400 Seiten  Genre: Roman

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schnörkel

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Lange Zeit habe ich geglaubt, dass Erich an allem schuld war. Dass all das ohne ihn niemals geschehen wäre. Ich habe meinen Hass auf ihn genährt, und erst jetzt, da ich kurz vor meiner großen Reise stehe, frage ich mich manchmal, ob nicht auch er ein Opfer war. Wie Christa und all die anderen, die wie die Lemminge auf den Abgrund zusteuerten. Obwohl es mir schwerfällt, die mit den Knüppeln als Opfer zu sehen.

(S.9)

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Inhalt

Deutschland, Sommer 1959. Christa und Ruth lernen beim Baden den gutaussehenden, hünenhaften Erich kennen, der mit einigen anderen Freikirchlern auf der Wiese in der Heide kampiert. Von ihm magisch angezogen, folgen beide Mädchen dem jungen Mann in den Kreis der Gläubigen, folgen ihm in die Umarmung Paul Schäfers. Der einen gelingt es noch rechtzeitig, die Reißleine zu ziehen, doch für die andere wird sich von diesem Moment an ihr Leben verändern. Ein Leben, gelebt in Chile, gelebt in der Colonia Dignidad.

Rezension

Es ist eine deutsche Wahrheit, eine Sekte, die viele Jahre ihr grausames Spiel spielen konnte, unbehelligt von Behörden, Anwälten, Staaten. Es ist eine Wahrheit, die trotz aller Grausamkeiten nur wenig Platz in den Köpfen der Menschen einnimmt. Die Colonia Dignidad, ein totalitär regiertes Stückchen Land mitten in Chile.

Rabenfrauen beschäftigt sich mit dem Schicksal zweier junger Frauen, die mit der Sekte in Berührung kamen. Ruth konnte sich gegen den Sog wehren, den diese Glaubensgemeinschaft ausübte, doch Christa war ihr erlegen. Sie bricht Stück für Stück ihr altes Leben ab, sie verschanzt sich hinter den immer höher werdenden Zäunen der Freikirchler. Als sie nach Chile auswandern, tut sie es aus freien Stücken. Zumindest zum Teil. Denn die Gemeinschaft übt Druck auf ihre Mitglieder aus, lässt sie von Sonnenaufgang bis Mitternacht arbeiten, beichten wird zum Muss. Niemand darf etwas geheim halten, alles wird der Gemeinschaft erzählt. Es folgen Bespitzelung und Denunzierung der Mitglieder, Vertrauensbrüche und Isolation. Fleischespest, so nennt Onkel Paul die Anziehung zwischen Mann und Frau. Er trennt Familien, Frauen von ihren Männern, Kinder von ihren Eltern. Doch selbst vergeht er sich Abend für Abend an den kleinen Jungen, die in dem Lager leben. An Flucht ist nicht zu denken, denn der chilenische Staat steht hinter der Kolonie der Würde.

Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt, die sich durch unterschiedliche Schriftarten gut voneinander absetzen. Christa erlebt mit uns zusammen die Jahre in der Sekte, jede Qual und jeden Hoffnungsschimmer. Ruth erzählt rückblickend vom Sommer 1959 und allen Ereignissen, die danach folgten. Von ihrem Versuch Christa zurückzuholen. Und Anne weiß von alldem nichts, ahnt nicht, wie Ruth – ihre Mutter – in allem verstrickt ist. Erst als sie auf Renate und Horst trifft, zwei ehemalige Sektenmitglieder, die ein neues Leben in Deutschland beginnen, erfährt sie von der Vergangenheit. Von ihrer Vergangenheit.

Die Geschichte hat mich sehr berührt. Da es keine eigentlichen Kapitel gab, las man ohne Unterbrechung Abschnitt um Abschnitt, geriet selbst in die Sekte und sah kein Entkommen mehr. Details wurden von den verschiedenen Erzählern aufgegriffen und vertieft, Fragen wurden gestellt und von jemand anderem beantwortet. Das machte das Lesen zu einem wahren Fluss, der mich unaufhaltsam mit sich zog.

Fazit

Ein düsteres Kapitel Menschheitsgeschichte, dem es sich lohnt nachzugehen. Die Geschichte der Colonia Dignidad wird sehr bildlich dargestellt. Im Anhang findet man zudem noch eine Zusammenfassung der tatsächlichen Geschehnisse. Ein schweres Thema, dass jedoch sehr angenehm umgesetzt wurde. Lesehighlight!

Bewertung im Detail

Idee ★★★★★ ( 5 / 5 )

Handlung ★★★★★ ( 5 / 5 )

Charaktere ★★★★★ ( 5 / 5 )

Sprache ★★★★☆ ( 4 / 5 )

Emotionen ★★★★★ ( 5 / 5 )

= 4.8 ★★★★★

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schnörkel

 

18 Comments on “[Rezension] Anja Jonuleit – Rabenfrauen

  1. Huhu 🙂
    Das klingt nach einer richtig heftigen Geschichte – aber du hast Recht, Sekten werden bei uns viel zu wenig angesprochen, obwohl es davon sicher einige gibt. Auf jeden Fall ein Thema, dass ich etwa gerne mal in meinem Unterricht umsetzen möchte. Daher vielen Dank für das Vorstellen 🙂

    Alles Liebe,
    Smarty

    Gefällt 1 Person

    • Huhu Smarty! 🙂
      Bitte gern! Für die Schwere des Themas hat die Autorin es wie gesagt sehr ansprechend umgesetzt, man verliert sich nicht völlig in Abartigkeiten, man kann immer ein wenig Abstand wahren.

      Liebste Grüße!
      Gabriela

      Gefällt 1 Person

  2. Hallo, Gabriela!
    Oh, das hört sich an, als würde man ziemliche Nerven brauchen, um dieses Buch zu lesen. Vielleicht nicht direkt was für mich, aber es klingt nach einem Buch, das dem Freund™ gefallen könnte. 😀
    LG, m

    Gefällt 1 Person

    • Liebste m! 🙂
      Tatsächlich ging es nervlich ganz gut, fand ich! Der Abstand zu den Geschehnissen ist gegeben, dadurch dass man nicht minutiös alles mitverfolgen muss. Manchmal ist das vielleicht ganz gut so. Aber eine Empfehlung für den Freund ist es vllt allemal 🙂

      Liebe Grüße!

      Gefällt 1 Person

  3. Hallo Gabriela,

    ich habe mir das Buch mal gekauft, nachdem ich den Film Colonia Dignidad gesehen hatte (sehr empfehlenswert). Jetzt liegte es aber immer noch auf meinem SuB. Deine Rezension macht mir aber bewusst, dass ich das endlich mal lesen sollte. 😉

    Liebe Grüße,
    Jenny

    Gefällt 1 Person

    • Huhu Jenny! 🙂
      Bei mir ist es ähnlich. Ich habe mal den Trailer zu diesem Film gesehen, habe darauf das Buch gekauft und moin gucken wir dann den Film. Lustig, dass beides so eng verknüpft ist, obwohl es ja nicht dieselbe Geschichte erzählt.
      Lies es aber unbedingt, es ist wirklich gut!

      Liebste Grüße!
      Gabriela

      Gefällt 1 Person

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