[Kurzgeschichte] Kapitel 1 – Das Geheimnis

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Einige Monate war die zehnjährige Isobel nun schon hier. Das Waisenhaus war zu einem Ort geworden, an dem sie sich wohl fühlte, doch sie vermisste ihre Eltern jeden Tag. Sie waren verschleppt worden, doch nicht von gewöhnlichen Verbrechern, sondern von einem Pooka. Lange Zeit glaubten die anderen Kinder nicht, dass das irische Fabelwesen tatsächlich existierte. Für sie war Isobel einfach nur sonderbar. Doch mit der Zeit gewöhnten sie sich an das kleine rothaarige Mädchen mit der gewaltigen Portion Fantasie.

Doch Isobel selbst war vollkommen von der Richtigkeit ihrer Geschichte überzeugt, ebenso wie von der Tatsache, dass ihre Eltern noch lebten. Pookas töten keine Menschen. Pookas spielen Streiche, sie bringen kurzfristig Unglück, aber sie töten nicht. Dass der Wagen ihrer Eltern mit dem Wesen in Pferdegestalt durchging, war reines Pech. Nur Isobel wurde noch rechtzeitig abgeworfen. Seitdem verging kein Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, wo sie waren, ob sie wirklich noch lebten und warum sie sie nicht zu sich zurück holten. Isobel hatte schon vieles versucht. Sie war auf eigene Faust losgezogen, mit nichts dabei, als den Sachen die sie am Leibe trug. Eines Morgens war sie zur Vordertür des Waisenhauses hinaus gegangen, fest davon überzeugt, ihre Eltern binnen weniger Stunden gefunden zu haben. Doch schon bald musste sie einsehen, dass sie sich in der wilden Landschaft Irlands nicht zurechtfand, in die sie der furchtbare Ritt auf dem Pooka gebracht hatte. Frierend und schmutzig gelangte sie abends mit den letzten Sonnenstrahlen wieder an das Tor des Waisenhauses. Mrs. Robinson holte sie herein, ersparte ihr jedoch jegliche Predigt. Ein Blick in die traurigen Augen Isobels genügte, um sie zum Schweigen zu bringen.

Um das Mädchen auf andere Gedanken zu bringen, lud Mrs. Robinson am folgenden Sonntag wieder einmal zu einer Märchenstunde alle Kinder im Wohnzimmer ein. Als alle ihre Plätze auf den weichen Kissen und Sofas eingenommen hatten, begann sie, eine alte Geschichte zu erzählen. „Die Anderswelt, meine Kinder, ist gar nicht so weit entfernt, wie ihr glaubt. Jeder kann sie finden und betreten, doch es gehört auch einiges an Mut und Entschlossenheit dazu. Nicht jedes Wesen dort ist uns Menschen wohlgesonnen. Manch einer will uns piesacken, will unser Hab und Gut stehlen, oder uns für immer dort behalten. Doch wir können auch vieles erfahren. Es gibt Wesen, die uns helfen können in die Zukunft zu sehen. Oder verlorene Dinge zurückbringen.“ Isobel hörte gebannt zu. Verlorene Dinge? Auch ihre Eltern? „Wie kommt man denn in diese andere Welt, Nanna?“, fragte sie aufgeregt. „Oh, das kann ich dir leider nicht genau sagen, mein Kind. Mir wurde die Geschichte auch nur erzählt, selbst war ich nie da. Ich meine mich zu erinnern, dass mir mein Großvater sagte, dass es an Samhain eine Zeit gäbe, an der die Portale sich unter gewissen Umständen öffnen. Er sagte auch, dass sich einer der Wege hier bei uns befindet. Doch wo genau, das weiß ich leider nicht.“ Isobels Wangen glühten. Ein geheimer Weg in die Anderswelt – und das direkt vor ihrer Nase! Nur wo?

Nach der Stunde verschwand Isobel in der Bibliothek des Hauses. Hier war ihr liebster Ort, hier störte sie keines der anderen Kinder. Mit flinkem Blick huschten ihre Augen an den Bücherrücken entlang, die sich auf ihrer Höhe befanden. Märchenbücher, Geschichten über irische Ritter und Adelsfamilien, Mythen und Sagen. Aber mit keinem Wort wurde die Anderswelt erwähnt. Doch Isobel gab nicht auf, schob einen Stuhl an das Regal und kletterte nach oben, zu den Büchern, die schon lange vergessen waren. Eines trug den Titel Der Weg hinein und Isobel zog es vorsichtig zwischen den anderen hervor. Dicker Staub lag auf den Buchdeckeln, den sie vorsichtig weg wischte. Dann kletterte sie wieder hinunter und schlug das Buch aufs Geratewohl auf. Die alte Zeichnung zeigte einen Brunnen. Doch nicht irgendeinen. Isobel war sich sicher, dass es der alte Brunnen auf dem Hof war. Die gewundene Form der Kurbel, mit deren Hilfe man das Wasser hochholen konnte, entsprach exakt der im Hof. Aufgeregt blätterte sie weiter. „Gut verwahrt in Holz und Eisen, liegt das Geheimnis des Durchganges. Nur Wissende werden es finden, nur Mutigen öffnet es sich.“ Was konnte damit gemeint sein? Isobel prägte sich diese Zeilen gut ein und stellte das Buch zurück an seinen Platz. In Holz und Eisen. Sofort sah sie eine kunstvolle, mit Eisen beschlagene Truhe vor sich. Im ganzen Haus war ihr noch kein solches Stück aufgefallen. Aber sie musste hier irgendwo sein. Vielleicht auf dem Dachboden?

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Der Oktober steht im Zeichen der Geisterwesen. Halloween, welches am 31. Oktober jeden Jahres gefeiert wird, geht auf das alte keltisch-irische Fest Samhain zurück. Hier, so sagt man, konnten Menschen Kontakt zu Wesen jenseits unserer Welt aufnehmen.

Die Kurzgeschichte rund um Isobel gehört zu meinem Romanprojekt, an dem ich seit einiger Zeit schreibe. Begleitet Isobel auf ihrer Reise zu diesem Ort! 4 Wochen lang wird an dieser Stelle nun ein Kapitel veröffentlicht, bis der Abend der Geister vor der Türe steht.

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31 Comments on “[Kurzgeschichte] Kapitel 1 – Das Geheimnis

  1. Wunderbar! Großes Kino! Ich habe also ab sofort eine Verabredung mit Isobel! Hoffentlich findet sie den Durchgang – in der Zeit, wo die Schleier dünn werden, davor, danach …
    Ich bin sehr gespannt.
    Liebe Grüße
    Christiane

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  2. Huhu,
    das ist ja eine mega cool Idee! Ich bin schon richtig gespannt wie sich Isobel so schlägt.
    Wenn ich ganz ehrlich bin war mein erste Gedanke, als ich Pookah gelesen habe: Oh, Supernatural? (: ich glaube da gab es auch mal eine Folge aber in supernatural ist ja fast alles schon mal passiert.
    Auf jeden Fall bin ich neugierig was Isobel so alles erlebt und besonders ob sie ihre Eltern wieder findet.
    Das erste kapitel hat mir schon mal sehr gut gefallen (: Ich mag deinen Schreibstil.
    Liebe Grüße
    Lee.

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  3. Hallo 🙂
    Wirklich ein schöner Anfang, der einen gleich neugierig macht auf mehr. Und ich kann mich vor allem mit dem Bibliothek als Lieblingszimmer Part sehr gut identifizieren 😀

    Bin schon gespannt wie es weitergeht 🙂

    Liebe Grüße,
    Smarty

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    • Hallöchen! 🙂
      Ohja, ich glaube auch, das ich mich vermutlich ebenfalls die meiste Zeit in der Bibliothek aufhhalten würde… 🙂
      Freut mich wirklich, dass es dir gefällt!

      Liebe Grüße!

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  5. Liebe Gabriela,

    super coole Idee und toller Einstieg in deine Kurzgeschichte. 😀 Das ist mir doch glatt entgangen, während meine Social Media Abstinenz. ^^ Aber so kann ich zum Glück gleich bei Kapitel 2 weiterlesen. Ich mag solche Bloggeschichten. Auf die Idee zu deinem Roman bin ich sehr gespannt. Hattest du dazu schon mal irgendwo etwas auf deinem Blog geschrieben?

    Liebste Grüße
    Ella ❤

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    • Huhu!
      Vielen Dank! 🙂 Das macht ja auch gar nichts, glücklicherweise kann man alles nachholen und -lesen 😀 (Und die Freude ist groß, dass auch nochmal Kapitel 1 Aufmerksamkeit bekommt 🙂 )

      Den Roman habe ich noch nirgendwo erwähnt – das ist noch ein ganz großes Geheimnis, auch weil ich ihn Mitte des Jahres nochmal komplett umgeplottet habe ^^

      Ganz liebe Grüße!

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      • Da hast du recht. Aber so eine Pause hinterlässt große Leselücken. o.O Wahnsinn!
        Okay, na da bin ich ja gespannt. 🙂 Halt mich unbedingt auf dem Laufenden. 😀

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